Sweetgrass - das Herz der Erde
sich auf, um sich ihrer Mutter zu erklären. “Aber das ist ja ein Teil davon. Hier zu Hause weiß ich wieder, wie ich war, bevor ich geheiratet habe. Ich war beliebt, ich hatte viele Freunde. Ich habe an der Schule alles Mögliche gemacht. Ich hatte große Träume. Ich dachte, ich könnte alles erreichen. Mama, ich habe keine Ahnung, was aus diesem Mädchen geworden ist. Ist es einfach verschwunden, als ich erwachsen wurde? Passiert das allen Träumern, wenn sie älter werden? Oder drängt man dieses Mädchen in den Hintergrund? Wenn ich hier bin, fühle ich mich ihr wieder näher, und dann frage ich mich – habe ich dieses Mädchen damals hier zurückgelassen?”
Auch Mama June konnte sich noch gut an das ehrgeizige lebenslustige Mädchen erinnern. Sie sah in die hell strahlenden Augen ihrer Tochter. “Ich glaube, du trägst sie immer noch in dir.”
“Das glaube ich auch”, antwortete Nan mit Hoffnung in der Stimme. “Und ich mag dieses Mädchen. Und ich will wieder mehr mit ihr zu tun haben.”
Mama Junes Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie die Brosche aus Nans Hand nahm. “Kinn hoch”, sagte sie, und dann steckte sie ihrer Tochter die Brosche an ihr Nachthemd.
“Sie steht dir”, stellte sie bewundernd fest. “Sie gehörte einmal einer starken mutigen Frau. Und jetzt gehört sie dir.”
Nans Augen füllten sich mit Tränen.
“Nan, es ist wunderbar, dass du dich auf die Suche nach dir selbst machst, aber warum musst du dafür Hank verlassen?”
“Weil ich es mit ihm nicht kann. Er unterstützt mich nicht, Mama. Er will nur, dass ich ihn unterstütze. Für ihn ist das so etwas wie meine Arbeitsplatzbeschreibung. Solange ich mich um ein schönes Zuhause gekümmert habe und im Bett machte, was ihm gefällt, war die Welt für ihn in Ordnung. Wir haben uns in unserer Ehe sehr früh darauf festgelegt, dass ich ihm in allen wichtigen Dingen nachgebe. Er wurde immer stärker und ich immer schwächer. Es ist nicht einfach so passiert, Mama. Ich habe es geschehen lassen, wollte es geschehen lassen, weil ich irgendwie im Kopf hatte, dass sich so eine Frau verhält, die eine gute Ehefrau sein und eine gute Ehe führen will.”
“Den Mann unterstützen ist ja auch richtig”, entgegnete Mama June. “Du willst doch einen starken Ehemann.”
“Aber es ist nicht richtig, der Fußabtreter zu sein”, erwiderte Nan. “Morgan hatte recht, als er sagte, dass ich mehr Rückgrat brauche.”
“Liebes, kannst du denn nicht auch mit Rückgrat verheiratet sein?”
“Schon – dafür hätte ich allerdings früher etwas tun müssen. Jetzt ist es zu spät dafür. Unsere Ehe ist viel zu sehr auf dieses Muster festgelegt. Und nach dem, was er heute Abend gemacht hat …” Sie schüttelte den Kopf. “Ich will nicht wieder zu ihm zurück. Ich habe mich entschieden.” Sie schwieg einen Moment. “Ich verlasse ihn.”
Mama June saß wie betäubt auf dem Bett. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. “Du willst Hank endgültig verlassen?”
Nan nickte. “Ich wollte dich nach dem Essen fragen, doch dann ist dieser Sturm hier losgebrochen. Ich dachte … Mama, kann ich wieder nach Hause zurück?”
“Natürlich”, antwortete Mama June sofort, bedauerte jedoch ihre Worte, sobald sie sie ausgesprochen hatte. Sie wollte nicht an einer überstürzten Aktion beteiligt sein, die vielleicht eine Ehe ruinierte. “Bist du dir wirklich sicher, Nan? Lass uns noch ein paar Minuten darüber nachdenken. Das ist schließlich ein schrecklich großer Schritt. Du solltest dich erst mal beraten lassen oder mit einem Priester sprechen. Vor allem solltest du nicht voreilig handeln.” Dann zögerte sie, weil sie an das Schlimmste dachte. “Er hat dich doch nicht geschlagen oder …”
“Nein, nein, nichts in der Art. Und so überstürzt ist es nun auch wieder nicht. Es ist eher so, dass alles sich darauf hinbewegt hat.”
“Das habe ich nicht gemerkt”, murmelte Mama June tief betroffen.
“Es sollte niemand merken.” Nan hob die Schultern. “Hier bin ich also.”
Mama June blickte ihre Tochter an, die ihr so ähnlich war. Und in diesem Moment schien es ihr, als hätte sie ihre Tochter zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit wirklich wieder vor sich gesehen.
“Da bist du also”, flüsterte Mama June. Sie umarmte ihre Tochter, und gemeinsam kuschelten sie sich in die Kissen. “Und hier bleibst du auch, bis du und Hank euch entschieden habt, so oder so.”
“Du und Daddy, ihr seid so lange
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