Sweetgrass - das Herz der Erde
saß, schlug er die Beine übereinander und lehnte sich zurück, jede Bewegung so steif und künstlich, als stünde er auf einer Bühne.
“Schöner Tag”, begann er lahm.
Eine einseitige Unterhaltung war mühsam. Morgan fühlte sich schon nach zwei Sätzen erschöpft, frustriert und wäre am liebsten davongelaufen. Wo war seine Stimme? Als er so neben seinem Vater saß, kam er sich wieder vor wie der verängstigte kleine Junge, den er vorhin im Spiegel gesehen hatte.
Morgan schloss die Augen und atmete tief ein. Er wollte nicht, dass sein Vater in ihm den kleinen Jungen von damals sah, sondern den Mann, der aus ihm geworden war. Doch was sollte er sagen? Wie konnte er ihm dieses andere Bild vermitteln?
“Es tut mir leid, dass ich dich nicht öfter besucht habe”, begann er. Er starrte auf seine Hände und lachte kurz und bitter. “Irgendwie scheine ich mich bei dir immer für irgendetwas zu entschuldigen, oder?”
Er nahm sein Bein wieder herunter und lehnte sich vor, näher zu seinem Vater, weil er gehört werden wollte. “Du willst bestimmt wissen wollen, was ich in den letzten Jahren gemacht habe. Wo ich eigentlich gelebt habe und solche Sachen. Aber wo soll ich anfangen?” Er trommelte nervös mit seinen Fingern auf seine Oberschenkel.
“Nun ja, Montana ist eine wirklich schöne Ecke. Ich besitze gerade mal ein paar Dutzend Hektar dort, das ist ein Witz für diese Gegend hier, aber es gehört mir. Ich habe ein paar Pferde”, fuhr er fort, weil er wusste, dass sich sein Vater für Viehzucht interessierte. “Ich habe es mit Ziegen versucht – wegen der Milch –, aber die haben zu viel Arbeit gemacht.” Er grinste und freute sich, als er ein verständnisvolles Lächeln auf dem Gesicht seines Vaters entdeckte.
“Es gibt eine Hütte, die ich selbst gebaut habe. Nicht besonders groß”, ergänzte er bescheiden. “Nur zwei Schlafzimmer, aber das Quellwasser ist hervorragend, und die Aussicht ist so grandios, dass mir noch immer manchmal das Herz stehen bleibt. Erinnerst du dich, wie du mal gesagt hast, dass man Gottes Atemhauch spüren kann, wenn man über das Land schaut? Das ist mir dort so gegangen, Daddy. Und wenn der Wind durch die Bäume pfeift, ich schwör’s dir, dann kann ich die Engel singen hören.”
Er lachte etwas verlegen, weil er so emotional über sein Zuhause sprach. “Alles dort ist so endlos weit. Das Land scheint kein Ende zu haben, und nur der Himmel ist noch weiter. In so einem Himmel kann man sich wirklich verlieren.” Er verstummte und kam schließlich auf den Punkt. “Es ist ganz anders als hier, weil mich nicht jeder Grashalm an etwas erinnert. Ich nehme an, das macht den Reiz von Montana für mich aus. An der Landschaft dort erinnert mich kaum etwas an Zuhause.”
Er räusperte sich, um seine Emotionen in den Griff zu bekommen. “Ich bin für eine Herde Bisons verantwortlich, die zu einer großen Ranch gehören. Die Ranch gehört ein paar reichen Filmleuten, die von Zeit zu Zeit vorbeikommen. Sie sind ziemlich nett und lassen mich in Ruhe, solange ich meinen Job ordentlich mache, und das gefällt mir. Ich habe nicht viele Freunde, aber ich fand immer, dass ein paar wirklich gute Freunde ausreichen. Ich wünschte, ich könnte dir erzählen, dass zu Hause eine tolle Frau auf mich wartet, ich weiß, dass Mama June froh darüber wäre. Aber es gibt keine. Ich hatte ein paar Freundinnen. Doch allzu lange scheint es nie zu funktionieren, und ich vermute, dass es an mir liegt. Alle habe sie mir erzählt, dass irgendetwas in mir fehlt, das mich davon abhält, mich wirklich einzulassen.”
Er schloss die Augen. “Ich weiß nicht, Daddy, vielleicht haben sie recht.”
Als er die Augen wieder öffnete, sah sein Vater ihn an, unverwandt und ohne jede Kritik im Blick. Morgan wusste, dass er ihm aufmerksam zuhörte. Es war etwas völlig anderes als die einseitigen Unterhaltungen, die sie früher geführt hatten. Vielmehr war es eine ganz neue Erfahrung in ihrer Beziehung, und das beruhigte ihn und löste seine Zunge.
Das ist schon merkwürdig, dachte er. All die Jahre, die er allein in den Bergen verbracht hatte, um mit sich klarzukommen, war er nicht weitergekommen. Und jetzt schälte er eine Haut nach der anderen ab, direkt unter den Augen seines Vaters. Ob es ihm gerade so ähnlich ging wie einem Sünder in der Beichte?
“Ich machte sie nicht dafür verantwortlich, wenn es mit uns nicht funktioniert hat”, fuhr er fort. “Ich bin selber schuld. Es ist schwer, eine
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