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Sweetgrass - das Herz der Erde

Sweetgrass - das Herz der Erde

Titel: Sweetgrass - das Herz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Alice Monroe
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Raum zu betreten. Es war auch nicht die Pflicht eines Sohnes. Mitgefühl trieb ihn an die Seite seines Vaters. Preston Blakely lag unter einer dünnen blauen Baumwolldecke, die ihn ein bisschen wie eine Mumie aussehen ließ. Ganz flach lag er im Bett, die Zehen ausgestreckt, den einen Arm merkwürdig über die Brust, den anderen seitlich neben den Körper gelegt.
    Preston wirkte seltsam klein. Seine sonst gebräunte, rosige Gesichtshaut war blass geworden, und an seinen markanten Wangenknochen war die Haut schlaff und eingefallen. Sein Mund, der Befehle mit der gleichen Autorität von sich geben konnte wie witzige Geschichten, schien schwach und hing etwas herunter. Morgan war zutiefst erschrocken, seinen Vater so zu sehen. Er war sich nur zu bewusst, dass er auf beiden Beinen stand, was sein Vater nicht mehr konnte.
    Morgan schob einen Stuhl ans Bett und ließ sich darauf fallen. Er verschränkte die Arme über dem Bauch und saß ruhig da, während er seinen Vater ansah und die Erinnerungen in ihm wüteten. Nach einer Ewigkeit – wie ihm schien – blickte er auf seine Uhr und stöhnte innerlich auf, als ihm klar wurde, dass er noch Stunden hier verbringen würde. Er war jetzt bereits vollkommen erschöpft. Leise stand er auf und lief durch das Zimmer, sah nach den Blumen und las die Namen alter Freunde der Familie auf den Grußkarten.
    An der Tür hing eine Liste, ein einfacher handgezeichneter Karton, auf dem Tage und Zeiten notiert waren. Die Liste war rot, blau und gelb bemalt, und Morgan war sich sicher, dass sie von seiner Mutter stammte. Schon früher hatte sie immer Aufstellungen von den Noten ihrer Kinder gemacht und sie mit kleinen Sternchen versehen. Auf der Liste hatten diejenigen unterschrieben, die sich bereit erklärt hatten, Zeit bei Preston zu verbringen. Ein paar wenige Namen tauchten häufiger auf, doch als die Tage zu Wochen geworden waren, kamen auch diese Namen immer seltener vor. In den letzten Tagen stand bei den meisten Terminen nur noch der Name seiner Mutter.
    Morgan war betroffen, als er sah, wie selten die Namen seiner Schwester und seiner Neffen auf den Karten zu lesen waren. Heute stand in Morgans krakeliger Handschrift sein eigener Name auf der Liste. Beim Schreiben schwor er sich, dass sein Name von nun an jeden Tag dort stehen würde, bis sein Vater wieder zu Hause wäre.
    Als er sich seinem Vater zuwandte, fuhr er erschrocken zurück. Die Augen seines Vaters in dem totenblassen Gesicht waren geöffnet und starrten ihn an. Morgan klopfte das Herz bis zum Hals, als er in diese lebendigen blauen Augen blickte, die seinen so ähnlich sahen.
    “Hallo, Daddy”, brachte er heraus.
    Die Augen starrten ihn weiter an und wurden dabei größer. Morgan hätte schwören können, dass sein Vater ihn erkannte.
    Nervös fuhr Morgan sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er schob seinen Stuhl quietschend noch näher an das Krankenbett heran und setzte sich. Aber sein Vater zeigte keinerlei Reaktion, nicht einmal ein Zucken. Diese Stille war unheimlich. Morgan musste an früher denken, wenn sein Vater gewütet hatte, er solle dies oder das tun, oder wenn er ihn ausgeschimpft hatte, weil er etwas falsch gemacht hatte. Jedes Mal hatte Morgan sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass sein Vater endlich den Mund halten würde. Doch diese stummen traurigen Augen waren viel schlimmer als alles andere.
    Morgan streckte den Arm aus und legte seine Hand zögernd auf die seines Vaters. Ihn so anzufassen war merkwürdig, das hatte es so gut wie nie gegeben. Die Knochen seiner großen Hand fühlten sich zerbrechlich an, und die Haut schien trocken und kühl. Morgan beugte sich vor und richtete mit heiserer, zitternder Stimme die ersten Worte seit mehr als einem Jahrzehnt an seinen Vater.
    “Ich bin jetzt bei dir, Daddy. Du bist nicht allein.”
    Später am Abend lief Morgan unter dem Blätterdach der Eichenallee entlang, begleitet von Blackjack und einer Flasche Jim Beam. Der Hund war begeistert über so viel Aufmerksamkeit nach wochenlanger Vernachlässigung und trottete schwanzwedelnd neben ihm her. Das Laufen bereitete dem alten Hund manchmal Mühe, und seine schweren Pfoten wühlten die Erde der Straße auf. Über den beiden reckten sich graue knorrige Äste weit in den Himmel und verbanden sich zu einem Gewölbe, das einer europäischen Kathedrale alle Ehre gemacht hätte.
    Morgan erinnerte sich, dass sein Vater einmal diesen Vergleich gezogen hatte. Preston war diesen Weg fast täglich

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