Sweetgrass - das Herz der Erde
so nutzlos vor.”
Kristina riss die Augen auf. “Wie kommen Sie denn darauf? Sie arbeiten von früh bis spät. Sie kümmern sich doch immer um alles!”
“Das ist es ja. Ich möchte Preston helfen, nur manchmal kommt es mir so vor, als hätte jeder seine Rolle bei seiner Pflege – nur ich nicht. Ich bin sicher, dass Sie ebenso gut ohne mich zurechtkämen.” Sie schämte sich, weil ihre Stimme einen beleidigten Unterton angenommen hatte.
“
Wir
könnten das wahrscheinlich schon”, stimmte Kristina zu. “Aber
er
könnte es nicht.”
Mama June hob den Kopf.
“Sie denken, die Pflege hätte nur damit zu tun, den Ablaufplan einzuhalten, Preston zu baden, ihm die Tabletten zugeben und so weiter, stimmt’s?”
Mama June nickte.
“Diese Art Arbeit lässt sich gut messen. Doch es gibt noch den ganz wichtigen Bereich bei der Pflege, der viel persönlicher ist. Und da geht es um das Wohlergehen des Patienten, seine Mitarbeit, seine Motivation, seinen eigenen Wunsch, wieder gesund zu werden. Ohne das bringt unser aller Arbeit gar nichts. Und die Verantwortung für diesen Teil der Pflege liegt größtenteils auf Ihren Schultern. Sie sind ein sehr wichtiger Bestandteil bei dieser Therapie, Mary June.”
Mama June warf einen resignierten Blick auf Preston. “Dann mache ich meine Arbeit wohl nicht besonders gut. Tag für Tag bemüht er sich so, ein paar Sätze zu sagen, aber jeden Tag scheint er tiefer und tiefer in Depression zu verfallen. Ich dachte, die Rückkehr nach Hause würde ihn anspornen, doch es scheint ihm jetzt noch schlechter zu gehen als vorher. Er wirkt, als wolle er aufgeben.”
Kristina nickte langsam und sah ebenfalls besorgt aus.
“Das passt nicht zu ihm”, erklärte Mama June.
“Wie meinen Sie das?”
“Er ist nicht der Typ für Selbstmitleid. Sie hätten ihn vor seinem Schlaganfall sehen sollen”, erinnerte sie sich wehmütig. “Er war ein Bild von einem Mann, er steckte so voller Leben! Und er war bei allem so geschickt! Wenn er die Angelleine durch die Luft sausen ließ, dann tat er das mit der Präzision eines Fechters. Wenn er ein Netz auswarf, hätte man schwören können, dass sich eine anmutige Blüte entfaltete. Er konnte jede Melodie auf der Gitarre nachspielen, selbst wenn er sie nur einmal gehört hatte. Und er fuhr so schnell mit seinem Auto, dass er die Gänge ohne zu überlegen gewechselt hat.” Sie lachte leise.
“Also war er ein echter Südstaatler?”, fragte Kristina schelmisch.
Mama Junes Augen spiegelten die Zärtlichkeit wider, die Mama June für ihren Mann empfand. “Wenn es um sein Auto ging, war er wie jeder andere Mann, der die Freiheit auf den Highways genoss. Manchmal, wenn wir nachts nach Hause fuhren, haben wir kein Wort miteinander gewechselt, weil ich mich bei seinem Fahrstil zu Tode gefürchtet habe. Er ist gerast, nur um mir Angst zu machen.” Sie seufzte und warf einen Blick auf den Mann, der vor ihr im Bett lag. “In Wahrheit hatte ich meistens gar keine Angst. Egal, was war, mit ihm habe ich mich immer sicher gefühlt.”
“Solche Männer sind selten”, entgegnete Kristina sanft.
Mama June nickte, und die Tränen, die in ihren Augen schimmerten, verrieten, was wirklich in ihr vorging. “Das war der Preston Blakely, den ich gekannt habe.” Sie wandte sich abrupt ab. “Diesen Mann hier kenne ich nicht.”
“Sie dürfen jetzt nicht aufgeben”, sagte Kristina eindringlich. “Er braucht Sie.”
Sie sah die junge Frau kurz an, überrascht, dass sie überhaupt auf diese Idee gekommen war. “Ich gebe nicht auf!”, antwortete sie. “Das habe ich nicht gemeint. Ich würde ihn niemals verlassen. Aber ehrlich gesagt, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt gut für ihn bin.”
“Natürlich sind Sie das. Und was sollten Sie denn noch mehr tun können?”
“Ich weiß nicht. Es muss doch noch irgendetwas …” Sie seufzte frustriert und verschränkte die Arme fest vor der Brust. “Ich wusste ja, dass seine Genesung keine einfache Sache sein würde. Dass es sehr lange dauern würde. Das haben die Ärzte mir mehr als einmal gesagt. Aber ich war so zuversichtlich, dass ich es schaffen würde.” Sie schüttelte den Kopf. “Die Realität sieht immer ein bisschen anders aus, nicht wahr? Ich habe nicht geahnt, dass er so entmutigt sein könnte, so deprimiert. Als wäre ihm alles völlig egal! Ich scheine ihn kein bisschen aufmuntern oder ermutigen zu können.”
“Er muss damit zurechtkommen, dass sein Körper die einfachsten
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