Sweetgrass - das Herz der Erde
zufrieden und flötete: “Gib deinen Jungs einen Kuss von mir. Sag ihnen, sie sollen mal vorbeikommen und mein neues Boot anschauen. Und Hank soll mich anrufen. Mach’s gut.” Sie winkte kurz und ließ das Fenster wieder nach oben.
Nan spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, während sie beobachtete, wie ihre Tante die Straße hinabfuhr. Ihr Wagen wirbelte eine Staubwolke auf.
Was machst du denn hier?
Was sollte diese Frage? Sie hatte jedes Recht der Welt, hier zu sein! Nan hasste sich für ihre Befangenheit, hasste sich dafür zu schweigen, anstatt die passende Antwort zu geben. So wie es Morgan getan hätte. Sie musste wieder an die Konfrontation beim letzten Familientreffen denken. An jenem Tag war sie so stolz gewesen auf ihre Mutter und ihren Bruder.
Hank und Tante Adele waren außer sich gewesen. Nan wusste, dass sie ihre Besuche auf Sweetgrass als Verrat empfanden.
Im Haus war alles still, als sie hereinkam. Die Tür zum Speisezimmer war verschlossen, also hatte ihr Vater wahrscheinlich gerade eine Therapiestunde. Aus der Küche kam der Geruch von etwas Leckerem. Zweifellos war Mama June dabei, das Abendessen zu kochen. Rechts durch die halb geöffnete Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters erspähte Nan Morgan, der in einen Stapel Papiere vertieft war. Die Aktenschränke hinter ihm standen offen, und überall standen Ordner herum. Sie schlich auf Zehenspitzen zum Tisch in der Halle und zog ein Papiertaschentuch aus der Box. Dann unterdrückte sie ein Grinsen, steckte ihren Kopf ins Arbeitszimmer und schwenkte das Taschentuch wie eine weiße Fahne.
“Ich komme in Frieden!”
Der Stuhl quietschte, als Morgan sich breit grinsend zurücklehnte. “Komm rein!”
Nan lachte und stieß die Tür auf. “Was ist denn hier passiert? Sieht ja aus wie nach einem Bombenangriff!”
“Etwas in der Art war es ja auch. Tante Adele war hier.”
“Ich weiß. Ich habe sie auf dem Hof getroffen. Ich habe auch ein paar Salven abgekriegt. Was wollte sie denn?”
“Helfen.”
Nan riss die Augen auf, als sie näher kam und sich an den Schreibtisch lehnte. “Das soll wohl ein Witz sein? Sie und Hank waren doch fest entschlossen, euch nicht zu unterstützen.”
“Daran hat sich auch nichts geändert. Aber sie weiß genau, dass wir mit dem Rücken zur Wand stehen, und denkt wohl, wenn sie uns hilft – wie hat sie es ausgedrückt? –
alles auf die Reihe zu kriegen
, würde uns schneller klar werden, dass wir Sweetgrass unbedingt verkaufen müssen.” Er strich mit einer Hand resigniert über die Akten vor sich. “Und sie könnte Recht haben. Ich gebe ihr die Unterlagen, und sie arbeitet sich konzentriert und unglaublich schnell durch die Papiere. General Sherman hätte noch das ein oder andere von ihr lernen können. Wir müssen hier vier Stunden gesessen haben, aber wir sind noch längst nicht fertig.”
“Sie kann so böse sein wie eine Hornisse im Juli”, grinste Nan frech. “Aber ich muss zugeben, dass ich sie bewundere. Immer schon. Ich meine, sie ist so stark! Ohne jede Angst. Wenn man nur bedenkt, was es zu ihrer Zeit bedeutet hat, wenn eine Frau nicht heiraten wollte und stattdessen ihre eigene Firma aufbaute. Und dann noch erfolgreich war damit!” Sie schüttelte ungläubig den Kopf. “Wie bewahrt man sich nur diesen Drang zur Unabhängigkeit?”
“Man geht den Männern aus dem Weg.”
Nan blickte ihn spöttisch an. “Adele war immer eine schöne Frau, und sie hatte stets Verehrer. Ich glaube nicht, dass sie den Männern aus dem Weg gegangen ist.” Sie schwieg einen Moment und dachte an die schönen Zeiten, die sie mit ihrer Tante verbracht hatte, vor allem in ihrer Kindheit. “Man konnte jede Menge Spaß mit ihr haben. Weißt du noch, wie sie uns Wasserski beigebracht hat? Und ihre Weihnachtsgeschenke waren immer die besten.”
“Stimmt”, antwortete Morgan. “Da kam der Weihnachtsmann nicht mit. Ich weiß noch, wie Mama June mal richtig eingeschnappt war. Ich glaube, sie haben deswegen gestritten.”
“Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch wieder ein. Mama war davon nicht so begeistert, weil sie selbst oft so wenig Geld für Geschenke hatte. Sie war wahrscheinlich ein bisschen eifersüchtig.”
“Wer weiß”, entgegnete er und zuckte leicht mit den Schultern. “Warum auch immer, Adele ist nicht mehr dieselbe. Sie hat sich seit unserer Kindheit verändert, jedenfalls uns gegenüber.”
Nan dachte daran, dass keiner von ihnen so war wie früher, aber sie ließ den Satz
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