Sydney Bridge Upside Down
nicht. In ein paar Monaten oder Jahren, dachte ich. Doch früher oder später würde es so weit sein, da hatte ich keinen Zweifel, dann wäre ich bereit. War dies etwa schon der Tag, war dies meine Chance? War ich schon stark genug? Und wie genau wollte ich vorgehen?
Zitternd trat ich in den Flur. Ich hatte eine Idee, zumindest den Ansatz einer Idee.
Mr Wiggins schob die Tür zum Kinderzimmer auf, er tastete nach dem Schalter. Als das Licht anging, stand ich dicht hinter ihm. Cal blinzelte, er sah uns an.
Mr Wiggins sah hinter die Tür und schaltete das Licht wieder aus. »Gute Nacht, Kleiner.« Er zog die Tür zu.
Jetzt ging er in Carolines Zimmer, machte auch da das Licht an. Er warf einen Blick in den Wandschrank, er sah unter dem Bett nach.
Er machte das Licht aus und ging in die Küche zurück, ich sah, dass sich seine Miene verdüstert hatte. Jetzt sah er auch noch in Papas Kammer nach. Ich wartete geduldig, und während ich wartete, spürte ich, dass es eine Möglichkeit gab. Ich musste mir nur immer wieder bewusst machen, wie stark ich bereits war.
»Wo ist deine Cousine?«, fragte Mr Wiggins.
»Nicht da.«
»Das hab ich auch schon gemerkt. Wo ist sie denn?«
Ich sah ihn nur an, ich war jetzt ganz ruhig.
»Sie ist wohl mit dem Kellyjungen unterwegs, was?«
»Nein.«
»Mit wem denn sonst?«
»Mit niemandem.«
»Ja, also, wo ist sie denn dann?«
»Sie will bestimmt nicht, dass ich es Ihnen sage.«
»Ach was, Blödsinn«, sagte er und lächelte unbeholfen. »Ich habe ein Geschenk für sie, Kleiner. Draußen im Wagen. Caroline würde sich riesig freuen, sie liebt ja meine Geschenke.«
»Aber …«, sagte ich.
»Sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn du es mir verrätst.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich.
»Komm schon, Harry. Du weißt doch, wie sehr sie sich über Geschenke freut.«
»Na gut, also, sie macht einen Spaziergang«, sagte ich. Ich tat, als müsste ich scharf nachdenken. »Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte ich. »Nehmen Sie mich einfach im Wagen mit, dann zeigen ich Ihnen, wo sie ist.«
»Warum sagst du es mir nicht einfach?«
»Es ist besser, wenn ich mitkomme, ich kann es Ihnen zeigen.«
»Na gut, dann komm.«
Sein Wagen stand im Mondschein, irgendwie gespenstisch.
Ich stieg auf der Beifahrerseite ein. Auf der Sitzbank lag ein Packet. Ich nahm es in die Hand.
»Ist das das Geschenk?«, fragte ich.
»In der Tat, Kleiner«, sagte er. »Und? Wo soll’s denn hingehen?«
»Einfach rüber zur Fabrik.«
»Da können wir auch zu Fuß hin.«
»Lieber nicht«, sagte ich, »da gibt es eine Stelle, die ist geheim …«
Er sah mich von der Seite an, sagte aber nichts. Er ließ den Motor an, fuhr sehr langsam und hielt auf der ganze Strecke Ausschau nach Caroline.
Als wir an der Fabrik waren, bat ich ihn, auf die Rückseite des Geländes zu fahren. So war der Lieferwagen von der Straße aus nicht zu sehen.
Er grummelte etwas wegen der Schlaglöcher, folgte aber meiner Anweisung.
»Hier ist’s gut«, sagte ich. Sobald er angehalten hatte, sprang ich aus dem Wagen.
Mr Wiggins nahm sein Geschenk und stieg ebenfalls aus. »Ich sehe sie nicht, wo soll sie denn sein?«
»Sie ist drinnen, wir haben ein Versteck auf dem Gelände.«
»So spät am Abend ist sie da drin?«, fragte er argwöhnisch.
»Wir haben eine Petroleumlampe«, sagte ich, »Dibs Kelly hat sie von seinem Vater bekommen, wir haben sie hier versteckt. Caroline darf herkommen, wann immer sie will.«
»Aber so spät am Abend?« Er glaubte mir nicht.
»Gehen Sie ruhig zu ihr«, sagte ich. »Ich muss jetzt leider nach Hause, mein kleiner Bruder wird sich fragen, wo ich stecke.«
»Bleib hier«, sagte er, »zeig mir, wo sie ist. Ihr habt also im alten Schlachthof ein Versteck, ja? Das hört sich ja spannend an, Harry.« Er war auf einmal sehr freundlich.
Ich brachte ihn zum Tor. Auf dem Hof war eine Stelle, die im Mondschein lag, dort drehte ich mich um: »Kommen Sie nur, ich zeige es Ihnen.«
Am Eingang blieb ich kurz stehen und sah mich noch einmal um. Jetzt war er es, der im Mondlicht stand. Ich sprang die Stufen hinauf. »Kommen Sie, Mr Wiggins!«, sagte ich gerade so laut, dass kein Echo entstand.
»Wo bist du denn?«, rief er, die Frage hallte nach.
»Gleich hier, die Treppe rauf«, sagte ich. »Wir müssen in den zweiten Stock, Mr Wiggins, da ist Caroline.«
Ich rannte die zweite Treppe hoch und wartete wieder.
Jetzt erzähle ich vom folgenden Nachmittag. Cal und Dibs und Bruce
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