Symphonie der Herzen
Zwei Stunden lang folgte Lu Georgy quasi über Stock und Stein, bis ihre Schwester endlich ihr Pferd zügelte und sich aus dem Sattel gleiten ließ. »Ich muss pinkeln«, verkündete sie rüde. »In letzter Zeit muss ich dauern pissen.«
Argwöhnisch hob Georgy ihre Unterröcke und untersuchte sie nach etwaigen Spuren von Blut; doch ihre Röcke waren blütenweiß. Wütend darüber, dass sich ihr Körper einfach nicht ihrem Willen unterwerfen ließ, kletterte sie zurück in den Sattel und ritt wie der Teufel zurück über die Felder.
Zwei Stunden später waren sie wieder in der weitläufigen Parkanlage von Woburn Abbey angelangt. Louisa war erleichtert, dass Georgy ihr Tempo endlich ein wenig gedrosselt hatte und nun gemächlich zurück zu den Ställen trabte, als sie zu ihrem Entsetzen mitansehen musste, wie Georgy plötzlich die Zügel losließ und sich kopfüber aus dem Sattel stürzte. Gütiger Gott!, dachte Lu. Sie versucht, sich umzubringen!
Sofort zügelte Louisa ihr Pferd, sprang ab und rannte zu ihrer
Schwester hinüber, die reglos und in seltsam verdrehter Haltung auf dem Boden lag. Keuchend sank Lu neben ihr auf die Knie. »Georgy, Georgy. Sag doch etwas!«
»Ich will sterben.«
»Nein, Georgy, das willst du nicht. Ich lasse dich nicht sterben.« Mühsam zog Lu ihre Schwester in eine sitzende Position hoch. »Tut dir irgendetwas weh?«
Georgy schloss die Augen, während sie sich verzweifelt fragte, warum noch nicht einmal ihr Selbstmordversuch funktioniert hatte. »Nein«, murmelte sie schließlich. »Mir tut gar nichts weh, außer vielleicht meine Knie und mein Rücken.«
»Kannst du gehen?«, hakte Lu panisch nach. »Oder soll ich dich stützen?«
»Wage ... es ... ja ... nicht«, zischte Georgy ihrer Schwester entgegen und funkelte sie mit unverhohlenem Hass an.
»Ruh dich besser erst einmal einen Moment aus«, seufzte Louisa. »Ich bringe derweil die Pferde in den Stall. Dann hole ich dich, und wir gehen gemeinsam zurück nach Hause.«
Als sie den hallenartigen Hausflur betraten, waren Georgina und die Dienerschaft gerade damit beschäftigt, die Weihnachtsdekoration aufzuhängen, während die Jungs mit vereinten Kräften einen riesigen Tannenbaum aufstellten.
»Das sieht aber schön aus«, staunte Louisa. »Ich ziehe mich nur rasch um, und dann komme ich runter, um euch beim Baumschmücken zu helfen.«
Keiner schenkte Lu und Georgy irgendeine Beachtung, während diese langsam ins Obergeschoss hinaufgingen. Oben angekommen, humpelte Georgy in ihr Zimmer, während Lu ihre Mäntel aufhängte. »Leg dich hin«, riet sie ihrer Schwester. »Ich massiere dir den Rücken.« Vorsichtig zog sie Georgy zuerst die Stiefel aus und knetete dann deren Schultern. »Georgy«, nahm sie schließlich wieder das Gespräch auf. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Bitte versprich mir, dass du so etwas nie wieder tust.«
»Hat ja auch sowieso nicht funktioniert«, entgegnete Georgy mit dumpfer Stimme.
»Wenn du willst«, erklärte Lu mit aufmunterndem Lächeln, »dann bringe ich dir gleich ein Tablett mit ein paar Leckereien herauf. Ich sage den anderen einfach, dass der Ausritt dich erschöpft hat.«
»Ich will aber nichts essen.«
Ratlos, wie sie Georgy nun noch beistehen sollte, ging Louisa hinab ins Erdgeschoss und half ihren Brüdern dabei, den Baum zu schmücken; in Gedanken jedoch war sie allein bei ihrer Schwester. Unterdessen waren die anderen damit beschäftigt, über die Geschenke zu diskutieren, die man sich zum Weihnachtsfest erhoffte, sich über die Spiele während der Festtage zu beraten und natürlich darüber, wer in diesem Jahr wohl die Rolle des Weihnachtsmannes | übernehmen dürfte. Niemand bemerkte, wie still Lu war.
Und wieder einmal erschien Georgy nicht zum Abendessen. Zum Glück aber hatte Louisa sich bereits eine Geschichte zurechtgelegt, als ihr Vater sie fragte, wo denn ihre Schwester sei. »Die packt gerade ihre Geschenke für uns ein. Und nach dem Essen wollte ich mich ihr eigentlich anschließen - am besten, ich nehme bei der Gelegenheit gleich ein Tablett mit einer Portion vom Abendessen zu ihr hoch.«
»Ich habe übrigens Charlotte und ihre Familie zu uns eingeladen«, verkündete Georgina frohgemut. »Es kann jedoch sein, dass sie die Weihnachtsfeiertage lieber in Fife House verbringen. Mal abwarten. Johnny jedenfalls hat schon zugesagt, bis einschließlich Neujahr bei uns zu bleiben. Und dem Premierminister und seiner Frau sowie den Hollands habe ich natürlich auch jeweils
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