Symphonie des Lebens
wollen. Es könnte mir gleichgültig sein … Aber ich habe Sie in den vergangenen Wochen beobachtet: Sie reißen sich von etwas los, von dem sie innerlich gar nicht loskommen können. Sie spüren das, und Sie wollen sich zwingen, es nicht zu spüren. Dabei werden Sie sich aufreiben, Madame … Man kann Realitäten nicht verscheuchen, indem man in Träume flüchtet. Aus Träumen muß man einmal erwachen, und das ist schrecklich.«
»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Doktor«, sagte Carola steif. »Ich brauche keine Warnungen –«
»Wohin kann ich Ihnen schreiben, Madame?«
»Warum?«
»Ich möchte den Kontakt nicht abreißen lassen.«
»Aber ich.« Carola nahm ihre Handschuhe. Ihre Stimme war hart und fast unhöflich. Dr. Lombard nahm es ihr nicht übel; er ahnte, wie es in ihrem Inneren aussah, jetzt, in dieser Stunde, da sie den ersten Schritt hinaus in das neue, gewollte Leben treten würde.
»Sie wollen mir Ihre künftige Adresse nicht geben, Madame?«
»Nein.«
Dr. Lombard erhob sich und reichte Carola die Hand hin.
»Adieu, Madame«, sagte er, ein wenig bedrückt bei dem Gedanken, daß eine so herrlich schöne Frau sich in das Abenteuer einer Liebe stürzte, von der er annahm, daß sie nur eine Blendung war. »Sie werden es vielleicht für sentimental und kitschig halten, wenn ich sage, Gott möge Ihnen beistehen.«
Carola senkte den Kopf. Plötzlich hatte sie wieder den Gesichtsausdruck eines kleinen, schutzsuchenden Mädchens.
»Danke, Doktor«, sagte sie leise. »Es heißt, Gott sei bei den Liebenden … aber ich glaube, hier werde ich mir selbst helfen müssen.«
Sie wandte sich brüsk ab und ging aus dem Zimmer. Schwester Anne wollte ihr nachgehen, aber Dr. Lombard hob die Hand und schüttelte den Kopf.
»Nicht –«, sagte er, als sei er schrecklich müde. »Ab jetzt können wir nichts mehr für sie tun …«
Vor der Villa stand Jean Leclerc und wartete.
Er hatte einen großen Strauß blutroter Astern in der Hand und ging unruhig vor der Toreinfahrt hin und her. Ab und zu blieb er stehen und musterte die Frauen, die über den Parkweg kamen. Wenn er erkannte, daß es nicht Carola war, nahm er seine Wanderung vor dem Tor wieder auf, die Blumen auf den Rücken haltend, den Kopf gesenkt.
Er hatte keine Vorstellung davon, wie Carola jetzt aussehen konnte. Sie hatte ihm nie geschrieben, was Dr. Lombard an ihr verändert hatte, nur soviel wußte er, daß sie die herrlichen blonden Haare gefärbt hatte und nun dunkel war. Warum dies einige Wochen dauerte, hatte er nie begriffen. Er blieb stehen und sah wieder hinüber zu dem Parkweg. Ich werde sie sofort erkennen, dachte er. Allein schon ihr Gang, ihr wiegender, aufreizender Körper … er spürte, wie er einen trockenen Mund bekam und die Erinnerung an die gemeinsamen Nächte wie ein Flimmern durch seinen Körper glitt.
Carola stand im Eingang der Klinik, noch im Schatten des Vorbaues, und sah zu ihm hinüber. Über vier Wochen hatte sie Jean Leclerc nicht gesehen, sie hatte in der Erinnerung gelebt und von der Sehnsucht gezehrt … nun, da sie ihn sah, in seinem Trenchcoat, mit feuchten, schwarzen Locken, das Jungengesicht ernst und irgendwie verhärmt und enttäuscht, war es ihr schwer, an die Verzauberung zu denken, in der sie in seiner Nähe gelebt hatte.
Sie beobachtete ihn und mußte an die Worte Dr. Lombards denken: Man kann Realitäten nicht verscheuchen, indem man in Träume flüchtet. Er hatte recht. Die Realität war der große, schwarzlockige Jüngling da vor dem Tor, war eine Frau, die ein anderes Gesicht bekommen hatte … und was sonst noch? Liebe? Alles vergessende Seligkeit? Carola senkte den Kopf. Es war ihr furchtbar, sich einzugestehen, daß sie jetzt zögern mußte, aus dem Schatten des Einganges zu treten, weil ihr dieser große Junge mit dem Blumenstrauß auf dem Rücken seelisch nichts mehr sagte. Nicht in diesem Augenblick. Vielleicht würde es anders werden, wenn sie wieder in seinen Armen lag, wenn der Traum sich fortsetzte, wenn die Leidenschaft ihrer Natur stärker wurde als ihr Gewissen und ihre Vernunft. Im Rausch leben – das hatte sie gewollt, dem hatte sie ihr Gesicht geopfert, alles hinter sich geworfen. Vielleicht –
Und wenn der Zauber nicht wiederkehrte?
Jean Leclerc blieb stehen und spähte in den Park. Er sah die Frau in der Tür stehen, sein Blick glitt über sie hinweg und hinauf zu den Fenstern. Warum läßt sie mich so lange warten, dachte er. Es ist kalt und feucht, das richtige Wetter für einen
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