syrenka
Haus zu stehlen. Sie hielt es einfach nicht mehr aus, den Strand zu meiden.
Peter fuhr sie nach Hause und Hester verabschiedete sich. Dieses Mal wollte sie allerdings warten, bis er weggefahren war, bevor sie ins Haus ging. Sie hatte sich etwas ausgedacht: Sie wollte ihr Fahrrad aus der Garage holen und es hinter dem Haus verstecken, damit sie sich in der Nacht ohne Lärm davonmachen konnte. Peter wartete aber ebenfalls, und da Hester keinen vernünftigen Grund hatte, wie angewurzelt stehen zu bleiben, winkte sie ihm mit einem hilflosen Schulterzucken – weil ihr mit einem Mal klar wurde, wie seltsam Peter ihre plötzliche Aufmerksamkeit ihm gegenüber vorkommen musste. Als er losfuhr, grinste er verwirrt und schüttelte ratlos den Kopf.
Nachdem sie ihr Fahrrad bereitgestellt hatte, betrat Hester das Haus durch die Vordertür. Ohne große Begeisterung aß sie ihr Abendessen und versuchte, dem Gespräch zu folgen. Aber es gelang ihr nicht. Sie half den Tisch abräumen und das Geschirr spülen, dann entschuldigte sie sich mit der Ausrede, lesen zu wollen. Oben duschte sie, putzte sich die Zähne und zog frische Kleider an. Dann legte sie sich ins Bett und begann in dem einzigen Buch zu lesen, das sie derzeit fesseln konnte – im Doyle-Journal.
Sooft sie das Buch in die Hand nahm, fühlte es sich warm an, als wenn vor ihr jemand darin gelesen und es gerade erst weggelegt hätte. Hester las eine Abhandlung darüber, wie die männlichen Individuen der Sirenen- und Nixenvölker sich gegenseitig in kriegerischen Auseinandersetzungen nach und nach umgebracht hatten und dass das letzte Baby vor tausend Jahren das Erwachsenenalter erreicht hatte. Daher war ihre Welt nun kinderlos, abgesehen von ein paar vereinzelten menschlichen Findelkindern, die man zu Wasseratmern hatte verwandeln können. Illustriert wurde die Abhandlung durch die wundervolle Zeichnung einer sehr hellhäutigen, von Wasser umgebenen Frau. Sie hatte scharfe Flossen und große Augen und hielt ein offenbar lebendiges Menschenkind schützend in ihren Armen. Hinter ihr, auf dem Grund des Meeresbodens, lag als fantastische Kulisse ein Schiffswrack.
Hester strich mit den Fingern über die Illustration. Dieser Doyle musste schon so lange tot sein – trotzdem sprach er noch zu ihr und erregte ihre Fantasie. Sie dachte darüber nach, dass das Niederschreiben von Informationen, Ideen und Geschichten die Zeit zwischen dem Autor und dem Leser verschwinden lassen konnte. Dies war einer der Gründe, warum sie sich in derSchule für Geschichte interessierte: Den Stimmen der Vergangenheit zu lauschen, hatte etwas Romantisches. Sie schlug das Buch zu und atmete den Geruch des Einbands tief ein. Dieser Autor musste zu Lebzeiten ein höchst interessanter Mensch gewesen sein!
Es war zehn Uhr. Hester stellte ihren Wecker auf ein Uhr, mit dem leisesten Signal. Irgendwie und auf wunderbare Weise fiel sie in einen erschöpften Schlaf, das Journal neben ihr im Bett.
Um 00:52 Uhr, bevor sich der Alarm einschaltete, öffnete Hester die Augen. Sie stand auf, stellte das Journal ganz unschuldig in ihr Bücherregal, band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und schnappte sich das Sweatshirt, das sie auf dem Bett bereitgelegt hatte. Mit den Turnschuhen in der Hand lief sie fiebernd vor Aufregung die Treppe hinab. Durch rationales Denken versuchte sie, ihre Nervosität zu beherrschen und sich auf eine Enttäuschung einzustellen: Es war ein Uhr morgens. Sie hatte sich nicht mit ihm verabredet. Er würde nicht da sein. Er sollte besser nicht da sein!
Aber das Ziehen in ihrer Brust verhieß etwas anderes.
Im Wohnzimmer zog Hester ihre Turnschuhe an. Sie band sich im Dunkeln die Schnürsenkel zu und schlich Richtung Küche, zur Hintertür.
Dann sah sie Sam und erstarrte. Sein Körper war auf Hüfthöhe angewinkelt, sein Gesicht und die Brust durch das Licht im Kühlschrank beleuchtet. Bevor sie auch nur daran denken konnte umzukehren, hatte er sie schon gesehen.
Er richtete sich auf und starrte sie an, die Hand immer noch an der geöffneten Kühlschranktür.
Mist , dachte Hester.
»Gehst du noch mal weg?«, fragte er aber einfach nur.
»Hm.« Ohne ihn anzusehen, lief Hester eilig Richtung Hintertür.
»Ich werde dich nicht verraten. Aber irgendeiner sollte schon wissen, wohin du gehst. Für alle Fälle.«
Hester blieb stehen. Erst jetzt merkte sie, dass sie wie ein Dieb gebückt schlich. Sie stellte sich aufrecht hin. Schon oft hatte Sam bewiesen, dass er ein
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