T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
gehandicapte Frau im Haus blieb. Natürlich. Für ihn, der ohnehin die meiste Zeit abwesend war, war das leicht. Er musste sich nicht ständig mit Jewel-Anne auseinandersetzen und hatte auch nur selten mit Demetria, der neugierigen, sauertöpfischen Pflegerin zu tun. Demetria sollte Jewel-Anne helfen, selbständiger zu werden, doch in Avas Augen war eher das Gegenteil der Fall.
Direkt nach dem Unfall hatte Ava nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass ihre Cousine in Neptune’s Gate blieb, nein, sie war sogar froh darüber gewesen. Noah war fast zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen, nur wenige Tage nach Kelvins Tod, und Ava hatte sich rund um die Uhr um ihn kümmern müssen. Das Baby war ihr Ein und Alles gewesen, daher war Ava gar nicht auf die Idee gekommen zu protestieren, als Jewel-Anne zusammen mit ihrer Pflegerin ins Haus zurückkehrte, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Warum auch? Neptune’s Gate war groß genug. Zu jener Zeit war sie völlig übermüdet gewesen, litt unter dem Tod ihres Bruders, und ja, sie fühlte sich mehr als schuldig, dass sie den Ausflug mit dem Segelboot vorgeschlagen hatte, etwas, das Jewel-Anne sie niemals vergessen ließ.
Zunächst hatte Hoffnung bestanden, dass sie ihre Beine wieder würde gebrauchen können. Die Diagnose hatte gelautet, dass ihr Zustand aus medizinischer Sicht nicht zwangsläufig lebenslang unverändert bleiben musste. Doch nach fast fünf Jahren und keiner sichtlichen Verbesserung war die Hoffnung gewichen und Jewel-Anne sozusagen zum Inventar von Neptune’s Gate geworden.
Ava gab sich alle Mühe, sich die Sticheleien und Bosheiten ihrer Cousine nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen, doch mitunter fiel ihr das schwer. Im Grunde hatte die junge Frau recht schlichte Bedürfnisse: ihre komischen Puppen; ihre Elvis-Sammlung, darunter noch einige Vinylplatten, die sie auf dem alten Plattenspieler abdudelte, den Jacob für sie vom Speicher geholt hatte; alte Filme. Wenn Demetria sie nicht zu ihrer Physiotherapie anhielt, hätte sich Jewel-Anne nur noch mit ihren Zeitschriften, Regenbogenmagazinen und Promiblogs beschäftigt. Sie liebte Realityshows und bestand darauf, sich alle paar Monate Strähnchen ins Haar machen zu lassen, wozu sie Tanyas Salon auf dem Festland aufsuchte und sich gleichzeitig über einheimischen Klatsch und Tratsch auf dem Laufenden hielt.
Manchmal fragte sich Ava, ob Jewel-Anne und Tanya auch über sie sprachen, doch sie hatte beschlossen, sich deswegen keine Gedanken zu machen, selbst wenn Tanya dafür bekannt war, eine Geschichte gern noch mit etwas Drama zu würzen. Doch Tanya war, anders als Jewel-Anne, eine verlässliche Freundin.
Trotzdem hatte es den Anschein, dachte Ava, als sie den Treppenabsatz zum ersten Stock erreicht hatte, dass ihre Cousine keine Chance verstreichen ließ, gegen Ava zu sticheln. Sie fragte sich, ob sie jemals aufhören würde, ihren Zorn wegen des Segelunfalls an ihr auszulassen.
Vermutlich nicht, dachte sie und schnitt eine Grimasse. Jewel-Anne würde für immer und ewig mit ihrem Rollstuhl durch die Flure von Neptune’s Gate schwirren und Ava auf die Nerven fallen, was ihr große Genugtuung zu bereiten schien. Manchmal benahm sich Jewel-Anne absolut kindisch, als sei sie noch keine elf Jahre alt, doch zeitweilig war sie regelrecht durchtrieben und berechnend.
Außerdem war sie eine Lügnerin.
Das wusste Ava mit Bestimmtheit.
Kapitel dreizehn
I ch verstehe nicht, was es da noch zu besprechen gibt«, sagte Ava eine Stunde später. Sie saß im Wohnzimmer in der Nähe des Fensters und wünschte sich, sie wäre wieder draußen. Es war jetzt fast dunkel; die Hortensien, die im Sommer so üppig geblüht hatten, sahen durch die Fensterscheibe aus wie dunkle Stangen. Im Kamin brannte ein Feuer, und Dr. McPherson saß in einem Sessel ihr gegenüber.
»Seit Ihrer letzten Wahnvorstellung sind erst ein paar Tage vergangen«, sagte die Psychiaterin mit ihrer leisen, autoritären Stimme, die Ava so auf die Nerven ging.
»Ich habe nicht halluziniert, ich habe ihn gesehen.«
Dr. McPherson, perfekt zurechtgemacht wie immer, nickte. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie Ihre Medikamente nicht nehmen.«
»Wer behauptet das?«
»Sie würden es vorziehen, die Tabletten die Toilette hinunterzuspülen.«
»Ist etwa jeder in diesem Haushalt Mitglied irgendeiner obskuren Verschwörung gegen mich?«
»Nein.« Die Therapeutin schüttelte den Kopf. »Sie machen sich nur alle Sorgen um
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