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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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seinem Verleger, ging zum Friseur und kaufte sich neue Hosen. Er machte lange Spaziergänge durch die Stadt und die Parks, besuchte Ausstellungen und saß stundenlang im Caféhaus, ohne etwas zu tun. Er merkte, dass er es nicht gut ohne Sofia aushielt.
    Nach zehn Tagen flog er nach Paris. Sofias Agentur richtete an diesem Abend einen Empfang für eine Tierschutzorganisation aus. Eschburg fuhr direkt vom Flughafen dorthin. Der Empfang fand im Hôtel de Crillon an der Place de la Concorde statt. Die Frauen trugen lange Kleider, die Männer Smoking. Eschburg langweilte sich. Auf der Toilette zog ein junger Mann eine Linie Koks, sein linkes Ohrläppchen war um einen ungefähr zwanzig Millimeter dicken, leuchtend grünen Silikonring gedehnt. Eschburg ging vor das Hotel und sah dem Verkehr zu.
    Um ein Uhr nachts durfte Sofia gehen. Ein Fahrer der Agentur brachte sie in ihre Wohnung, drei winzige Zimmer im 10. Arrondissement. Über ihrem Bett hing das Foto, das Eschburg von ihr gemacht hatte. Er hatte es auf 1,50   ×   1,50   Meter vergrößert. Es war das einzige Bild in ihrer Wohnung. Sofia sagte, sie freue sich so, dass er gekommen sei. Dann fiel sie auf das Bett und schlief sofort ein.
    Zwischen Schlaf- und Wohnzimmer waren Schiebetüren aus Glas. Er beobachtete Sofia durch dieses Glas und gleichzeitig sah er sein Spiegelbild: Ihr Gesicht war auf seinem Gesicht. Er stand lange so und beobachtete sie, während sie schlief.
             
    Nach dem Wochenende flog er zurück nach Berlin. Er ging in die Staatsbibliothek und suchte Bücher über Sir Francis Galton, einen Cousin Darwins, der Anfang des 19.   Jahrhunderts in England geboren worden war. Galton erfand die Wetterkarte und die Identifikation über Fingerabdrücke. Er war überzeugt, alle Verbrecher hätten sichtbare Merkmale, die sie von anderen Menschen unterschieden. Galton hatte lange überlegt, wie er diese Merkmale zeigen könnte, dann stellte er seinen Fotoapparat im Gefängnis von London auf und ließ sich Gefangene vorführen. Er fotografierte alle Gesichter übereinander auf eine einzige Fotoplatte. Galton wusste nicht, wie das Böse aussieht – es hätten die Augen, die Stirn, die Ohren oder die Münder sein können. Galton war erstaunt, als er das Foto zum ersten Mal sah: Es gab keine außergewöhnlichen Merkmale – das Gesicht aus den vielen Verbrechern war schön.
    Eschburg las viel in diesen Tagen, er schrieb ein Notizbuch voll, nachts zeichnete er Skizzen für eine Installation. Nach vier Wochen buchte er von einer Schauspieleragentur 38   Frauen. Er nannte nur wenige Voraussetzungen: Alle Frauen sollten in etwa gleich groß sein, sie sollten zwischen 18 und 22   Jahre alt sein, Kleidergröße 36 haben und sie sollten bereit sein, Nacktbilder von sich machen zu lassen.
    Ein Gestell auf einem Holzpodest zwang die Modelle, die gleiche Kopf- und Körperhaltung einzunehmen. Eschburg fotografierte sie nacheinander frontal mit einer 8   ×   10-Deardorff-Kamera auf Polaroid, die Bilder belichtete er 15   Sekunden lang.
    Die Polaroids wurden hellgrau, sie sahen aus wie weiche Bleistiftzeichnungen. Die lange Belichtungszeit ließ alles Unwesentliche verschwinden, nur die Linien der Körper und Gesichter blieben sichtbar. Später ließ Eschburg die Polaroids scannen, auf zwei Quadratmeter vergrößern und auf dünne Plexiglasplatten drucken.
    Ein junger Mann, der sonst Videospiele für eine Softwarefirma programmierte, kam jetzt jeden Morgen in Eschburgs Atelier. Er stellte seinen Computer auf, saß vor einem hochauflösenden Bildschirm und programmierte nach Eschburgs Anweisungen die Installation. Eschburg ließ sich die Programme erklären. Nach zwei Monaten kaufte er die Computer des jungen Mannes und arbeitete alleine noch acht Monate weiter. Es dauerte ein Jahr, bis die Installation fertig war. Mit Sofia wurde es leichter in dieser Zeit, sie gewöhnten sich aneinander und Eschburg glaubte, er habe den richtigen Rhythmus für eine Beziehung gefunden.
    Am Ende stellte er die Installation seinem Galeristen vor. Eschburg ließ ihn und Sofia alleine im Atelier und ging in den Innenhof. Er setzte sich auf die Stufen vor dem Eingang und schälte eine Orange, die Schalen legte er sorgfältig aufeinander. Er hielt die nackte Frucht gegen die Sonne, er drehte sie, er sah die einzelnen Kammern, die weiße Haut, die dünnen Adern, orange, gelb und rot. Er überlegte, wie weit sie zurückreichte, die unendliche Zahl der Entscheidungen bis zu

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