Tabu: Thriller
Wäre es draußen windig gewesen, hätte sie es kaum wahrgenommen.
Der Boden unten vor der Treppe hatte geknirscht.
Ihre Gedanken klärten sich in einer Reihe elektronischer Explosionen in ihrem Hirn:
Sie träumte nicht!
Sie war wach!
Sie war in Bø!
Unten im Haus war jemand!
Halvor?
Wie im Reflex richtete sie sich auf und schwang die Beine aus dem Bett.
Sie kniff die Augen zusammen (obgleich es stockfinster im Raum war) und fragte sich, ob es etwas gab, womit sie sich verteidigen konnte.
Draußen krächzte eine Krähe. Sie zuckte zusammen und fasste sich an die Brust.
Mein Gott!
Ohne etwas zu sehen, tastete sie sich bis zum Kleiderschrank hinter der Tür vor. Als kleines Mädchen war sie dort immer hineingekrochen, wenn sie mit Halvor Verstecken gespielt hatte. Sie tastete mit den Händen an der schrägen Decke entlang, bis sie die Schranktür fand. Die linke Hand glitt an der Innenseite nach unten, bis sie sich um den runden Holzriegel legte. Sie musste ihn etwas anheben, um die Tür aufzubekommen. Vorsichtig steckte sie die Hand in den Schrank. In einer angstvollen Sekunde dachte sie: Er versteckt sich dort drinnen! Sie jammerte, als ihre Hand gegen etwas stieß.
Eine Jacke! Die alte Strickjacke von ihrem Großvater, die immer dort gehangen hatte. Sie roch nach nasser Wolle, Heu und Schafen.
Hatte da nicht die Tür geknarrt?
O mein Gott, himmlischer Vater!
Sie stellte das rechte Bein in den Schrank. Ihr nackter Fuß stieß gegen Schuhe und Sandalen. Sie fand das Gleichgewicht wieder, beugte sich vor und versuchte, zwischen Jacken, Einlagebrettern und Schuhen Platz zu finden.
Es war eng. Wenn sie den Rücken gegen die eine Wand lehnte und die Füße gegen die andere presste, konnte sie es vielleicht schaffen, eine Weile so zu hocken.
Sie rutschte nach unten. Es ging. Einigermaßen. Das Kinn fast an den Knien, kauerte sie am Boden des Schrankes und zog die Schranktür zu. Sie schloss sich mit einem leisen Geräusch.
O mein Gott!
Sie hielt den Atem an.
Würde er nach ihr suchen? Sie lauschte auf seine Schritte, seine Hand auf dem Holzknauf des Schrankes. Das blendende Licht seiner Taschenlampe, wenn er die Schranktür öffnete.
Sie musste pinkeln. Verdammt, sie musste derart pinkeln, dass es wehtat.
Sie kniff die Augen zusammen.
Die Zeit verging… eine Minute… eine Stunde… ein Jahr.
Lieber Gott, lass das einen bösen Traum sein, o lieber Gott!
Ein Geräusch!
Sie konnte nicht erkennen, woher es kam. Die Luft war zum Schneiden und voller Staub und herber Gerüche.
O Gott, lass ihn mich nicht finden, bitte, lass ihn mich nicht f inden!
Sie schluchzte.
Noch ein Laut.
Schritte.
Lieber, lieber Gott, bitte lass ihn mich nicht finden!
Die Schranktür ging auf.
3
Sie schrie nicht.
In dem dunklen Zimmer kam er ihr wie ein riesenhafter Schatten vor. Nicht wirklich. Wie aus einem Traum entstiegen. Ein Fantasiebild ihrer eigenen Furcht.
»Hier steckst du also!«, sagte er.
Er ist nicht wirklich, er ist nicht wirklich, ist nicht wirklich.
Lange stand er in der Türöffnung und starrte auf sie herab. Das Dunkel verbarg seine Gesichtszüge.
Geh weg! Verschwinde! Du bist nicht wirklich!
Schluchzend kroch sie noch tiefer in den Schrank.
Ich träume! Das ist ein Albtraum… ein Albtraum, bei dem man nicht weiß, ob man wach ist oder schläft.
Aber er löste sich nicht auf, verschwand nicht.
»Halvor?«, jammerte sie.
Er bewegte sich nicht.
Ihr Atem stockte, ging ins Leere, und ihr Herz hämmerte so hart, dass es in ihren Ohren rauschte.
»Halvor? Bist du das? Halvor?«
Er machte ein schnalzendes Geräusch mit den Lippen.
Sie faltete die Hände vor der Brust. Zitterte wie unter Krämpfen.
O mein Gott, lass es Halvor sein… unten auf dem Hof ist etwas Schreckliches geschehen… ein Feuer!… und er ist mitten in der Nacht hier heraufgekommen, um mir das zu erzählen …
»Halvor?«
O Gott, o Gott, o Gott, es ist nicht Halvor… ein Landstreicher! Ein Einbrecher!… Und jetzt steht er vor einer Frau… einer einsamen Frau… mein Gott! Niemand wird mich hören, wenn ich schreie, und er weiß das, wird mich gleich vergewaltigen, o mein Gott!
Aber er sagte noch immer nichts. Stand einfach da; eine gewaltige Kontur im Dunkel, unwirklich, mystisch.
Erst jetzt kam ihr der Gedanke: Mein Gott… kann das … kann das er sein?
Shere Khan war tot. Der Tierarzt hatte gesagt, es gebe keinen anderen Ausweg, als ihm eine Spritze zu geben. Er hatte zu weinen angefangen. Peinlich. Er
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