Tabu: Thriller
derjenige aus dem Dezernat, der am wenigsten gegen Journalisten hatte.
Vang kannte den Nachrichtenredakteur Richard Wolter von diversen Anlässen. Ein harter Brocken, aber bodenständig. Mit Wolter gab es nie Ärger. Vang schätzte seine unumwundene, ehrliche Art. Die meisten Journalisten waren arrogante Besserwisser, aber mit Wolter ließ sich reden.
»Haben Sie vor, die Aufnahmen zu senden?«, fragte Vang und hielt die Tüte mit der Videokassette hoch.
Er saß mit Wolter, Kristin Bye und dem Chef vom Dienst, Toralf Skaug, an dem ovalen Sitzungstisch in Wolters Büro. Er bezweifelte keine Sekunde, dass sie sich von beiden Kassetten und den Briefen Kopien gesichert hatten. Vang hatte die Originale in durchsichtige Plastiktüten gepackt.
»Die Frage, die wir uns stellen müssen«, sagte Wolter und kippelte lässig auf seinem Stuhl, »ist, ob sich da jemand einen groben Scherz mit uns erlaubt.«
»Unmöglich zu sagen, nach dem, was wir haben.« Vang raschelte mit der Plastiktüte in seiner Hand. »Aber wir sollten die Sache auf alle Fälle ernst nehmen.«
Skaug verrührte mit einem Bleistift ein Stück Würfelzucker in seinem Kaffee. »Schöner Schlamassel, was?« Er lachte gedämpft.
Keiner fiel in sein Lachen ein.
Kristin Bye hatte die Hände auf der Tischplatte gefaltet und starrte aus dem Fenster. Vang musste wieder an Herdis denken. Herdis war zwölf Jahre jünger als er und sah aus wie ein Schulmädchen. Und manchmal benahm sie sich auch so.
Vang folgte dem Blick der jungen Reporterin zu den Bäumen und dem Park auf der anderen Straßenseite. Eine Träumerin, dachte er. Er war schnell dabei, Menschen Eigenschaften zuzuordnen. Eine dumme Angewohnheit, die seine Arbeit mit sich brachte, vermutete er. Aber Kristin Bye war ohne Zweifel eine Träumerin.
»Gibt es von Seiten der Polizei Vorbehalte, dass wir die Aufnahmen zeigen?«, fragte Wolter.
Vang wog nachdenklich die Kassette in der Hand. »Ich halte das für keine sehr gute Idee.«
Wolter suchte sich eine bequemere Position auf dem Stuhl. Er räusperte sich. »Ehrlich gesagt, kümmert mich Ihre persönliche Meinung nicht sonderlich. Ich möchte wissen, ob Sie irgendwelche juristischen Einwände sehen, die Finger von der Ausstrahlung der Bilder zu lassen?«
»Wir brauchen Zeit, um das Material genauer zu untersuchen. Und nicht zuletzt, um die Listen aller vermissten Personen durchzugehen. Wenn Sie mich schon fragen, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns ein oder zwei Tage einräumen, die Angelegenheit in aller Ruhe zu untersuchen. Sollten Sie jetzt damit an die Öffentlichkeit gehen, gefährden Sie die einleitenden Ermittlungen.«
»Damit einer Ihrer Jungs zum VG laufen und die Story für einen Silberling verkaufen kann«, seufzte Skaug.
Der Vorwurf versetzte Vang einen leichten Stich.
»Die Polizei will nur etwas Zeit rausschlagen, um die Aufnahmen und Briefe unter die Lupe zu nehmen«, sagte Wolter. »In aller Stille. Das ist keine überzogene Forderung. Wir wären durchaus bereit, bis morgen Abend mit der Ausstrahlung der Story zu warten. Exklusiv, selbstverständlich. Das klingt nach einem fairen Deal.«
Vang zog seine Jacke zurecht und sah Kristin an. »Sie haben keine Vorstellung, wer der Absender sein könnte?«
»Nein.«
»Haben Sie einen Verflossenen, der…«
»Also wirklich! Nein.«
»Noch nie vorher einen Brief oder etwas in der Art bekommen…«
»Nein.«
»Keine Anrufe, die…«
»Nein. Tut mir leid. Ich weiß nicht, wieso er die Sachen an mich geschickt hat.«
»Er?«
Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Was sonst?
»Könnten Sie uns eine Liste zusammenstellen, was Sie… sagen wir mal, das letzte halbe Jahr… gemacht haben? Vielleicht findet sich ja eine Verbindung.«
»Das ist eine Höllenarbeit! Wenn das für dich in Ordnung ist…«, sagte sie an Wolter gewandt.
»Natürlich.« Wolter trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Okay, sind wir uns einig? Wir geben der Polizei bis morgen Abend Zeit, bevor wir die Aufnahmen verwerten.«
»Gut.« Vang hielt noch einmal die Tüte mit der Videokassette in Augenhöhe.
»Unter einer klaren Bedingung: Die Polizei gibt weder Bilder noch irgendwelche Erkenntnisse darüber an andere Medien weiter«, sagte Wolter.
»Natürlich nicht.« Vang sah Kristin an. »Wenn Sie mich dann bitte ins Polizeipräsidium begleiten würden, damit wir uns ausführlicher unterhalten und Ihre Fingerabdrücke nehmen können? Wer hat die Briefe und Kassetten sonst noch in
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