Tabu: Thriller
bedeutete.
»Hallo, Kristin hier…«, sagt sie, als sie den Hörer ans Ohr legt.
Stille.
»Hallo!« Ungeduldig.
Gedämpfte Geräusche.
»Wer ist da?«
Sie will gerade auflegen, als sich eine zaghafte Stimme meldet.
»Hallo?«
Eine junge Frau. Verängstigt.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, ich… Sie spricht kehlig.
Stille. Gedämpfte Geräusche im Hintergrund.
Der Schrei bohrt sich durch die Leitung, durchfährt Kristin wie ein schmerzhafter Stromstoß. Er hält wenige Sekunden an.
Dann klingt es, als würde jemand ein Laken zerreißen.
Kristin hickst.
Die Schreie setzten wieder ein; sie klangen fern, gedämpft, abgehackt.
Immer noch das reißende Geräusch. Als würde ein Laken in viele Streifen zerrissen.
In der folgenden Stille steht Kristin wie angewurzelt da.
»Hallo?«, ruft sie.
Der Hörer wird aufgenommen.
Kristin hört jemanden schwer atmen.
»Hallo? Mein Gott, wer ist da? Warum… was soll das?«
Schnaufen.
»Hallo?«
Es vergehen ein paar Sekunden.
Ein dumpfer Schlag.
Dann wird der Hörer aufgelegt.
4
Anita Fjordviks Leiche wurde in einem der Becken vor dem Osloer Rathaus gefunden.
Es war ein stiller, bleicher Morgen. Die Sonne stand als diffuse Scheibe am Horizont. Ein paar Möwen stritten sich um einen toten Fisch, der auf dem Wasser trieb. Von Nesodden kamen einige kleinere Boote, eine leere Straßenbahn fuhr an Aker Brygge vorbei.
Der Straßenkehrer entdeckte sie, als die Rathausuhr sechsmal schlug.
Er hatte schon einige Minuten vorher den Fremdkörper bemerkt, aber er war zum Umfallen müde und brauchte eine neue Brille, weshalb er sie für eine Plane oder Ähnliches gehalten hatte. Drüben bei der Rathaustreppe standen seine zwei Kollegen an den gelben Lieferwagen gelehnt und genehmigten sich die zweite Morgenzigarette.
Erst, als er direkt vor dem Bassin stand, kapierte er, was das war.
Der Schock paralysierte ihn. Es war wie in einem Albtraum. Oder wie in einem Film. Die Kamera befand sich direkt hinter ihm. Er sah seinen Rücken und die Hand, die den Besenstiel hielt. Er sah die Leiche. Das blonde Haar. Den nackten Körper. Die Arme. Beine. Auf die linke Brust war eine Art Stern geritzt, mit einer Zahl drin.
Sechs.
Der Ruf verkeilte sich in der Luftröhre. Als er die Stimme schließlich wieder unter Kontrolle hatte, klang sein Rufen eher wie ein Schrei. Vom Honnørsteg flog eine Möwe auf, und zwischen Nesoddtangen und Bygdøy tauchte ein ausländisches Kreuzfahrtschiff auf.
5
Kristin bekam den Brief am selben Vormittag. Ein gelbbrauner Umschlag. Genau wie die vorigen. Ihr Name mit rotem Filzstift geschrieben. Eine VHS-Kassette. Ein handgeschriebener Brief mit Blockbuchstaben.
KRISTIN!
DU HAST MICH GETÄUSCHT UND MICH BELOGEN. SO SAGE MIR NUN DOCH, WOMIT KANN ICH DICH BINDEN?
SO STEHT ES GESCHRIEBEN.
DIE FRAGE IST: KANNST DU MEINE BOTSCHAFT LESEN – WIRKLICH LESEN UND VERSTEHEN?
FALLS ES DIR EIN TROST IST, KANN ICH DIR ERZÄHLEN, DASS DAS MÄDCHEN BEREITS IN MEINER OB-HUT WAR, ALS DU MEINEN LETZTEN BRIEF BEKOMMEN HAST.
DU HAST ALSO GEGLAUBT, ICH WÜRDE VERSUCHEN, DICH ZU BETRÜGEN? IN GEWISSER WEISE HAST DU RECHT, WENN AUCH ANDERS, ALS DU GLAUBST.
JETZT WEISS ICH, WO ICH EUCH HABE.
WENN DIE ÜBELTÄTER AN MICH WOLLEN, UM MICH ZU VERSCHLINGEN…
AQUARIUS
Zehn Minuten später waren Vang und zwei Ermittler an Ort und Stelle. Sie versammelten sich in Wolters Büro, wo dieser in der Zwischenzeit einen VHS-Spieler an den Fernseher gekoppelt hatte.
Anita sitzt auf der Matratze. Die gleiche Matratze, auf der Una Mørch gesessen hat. Ihre Handgelenke sind zusammengebunden. Sie hat die Hände gefaltet. Wie zum Gebet, denkt Kristin.
Sie hören das Geräusch einer Tür, die aufgeht und wieder geschlossen wird. Anita schaut auf. Ein Schatten fällt über sie.
Die Kamera zoomt ihr Gesicht heran. Sie starrt in die Linse. Die Nahaufnahme geht in eine Totale des Raumes über, bevor sie wieder ganz dicht rangeht.
Links von ihr tut sich etwas. Eine Hand reicht ihr ein Telefon.
Die Frau nimmt den Hörer in die zusammengebundenen Hände.
»Hallo?«
Sie lauscht, verwirrt.
»Ich bin’s, ich…«
Die Hand schießt vor, nimmt ihr den Hörer ab und legt ihn auf die Matratze.
Die Frau schaut hoch, zur Seite. Das Gesicht verzieht sich. Dann schreit sie.
Ein nackter Arm wird sichtbar. Die Hand hält etwas. Eine Rolle Paketklebeband.
Während sie sich wehrt, wickelt er das Klebeband um ihren Kopf. Er fängt unter den Augen an. Wickelt das Band immer wieder
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