Tabu: Thriller
dachte sie: Der ist es. Sie fühlte sich eingesperrt. Er brauchte gar nicht in ihre unmittelbare Nähe zu gelangen, um in ihr Leben einzudringen. Sie in ein Gefängnis aus Furcht und Langeweile zu zwingen. Ihre Beschützer, die Polizisten, zu Eindringlingen zu machen.
Im Laufe des Tages wurde sie immer mürrischer. Was wohl auch daran lag, dass manch unbedachter Kommentar fiel. Einer der Polizisten blätterte ungerührt durch das Fotoalbum mit Bildern von ihr und Marcus, und die Beamten musterten sie verstohlen. Durch den Türspalt hörte sie Claes sagen, sie hätte schöne Titten.
Sie wollte keine Kommentare hören. Weder über ihre Brüste noch über ihre Wohnung oder ihr Leben.
Patrick und Claes hielten sich in Küche und Wohnzimmer auf, während sie selbst immer mehr Zeit in ihrem Schlafzimmer verbrachte. Hinter verschlossener Tür hatte sie wenigstens ihre Ruhe.
Richard Wolter rief sie auf dem Handy an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie brauchte gut fünf Minuten, um ihm zu erklären, dass es ihr wahrlich schon besser gegangen wäre.
»Wir sollten uns darüber freuen, dass er seit gestern nichts mehr von sich hören lassen hat«, sagte Richard.
Sie berichtete ihm von dem Gruß im Briefkasten.
»O verdammt«, fluchte er.
Für Kristin war die Stille bedrohlich. Sie wusste, dass er sich darin versteckte. Irgendwo. Genau in diesem Moment. Er war nicht zur Ruhe gekommen. War voller List und Tücke. Und er hatte alle Zeit der Welt.
5
In dieser Nacht träumte sie wieder von Bø.
Sie sagte Ådne und Gustav, die halb auf dem Sofa lagen und zwischen MTV und CNN hin und her zappten, brav gute Nacht. Trotz allem war es nicht die Schuld der Polizisten, dass sie in dieser Zwickmühle steckte. Es gab wirklich keinen Grund, sich wie eine prämenstruelle Zicke aufzuführen. Bevor sie die Tür schloss, schwor sie sich, in dieser Nacht um alles in der Welt nicht wieder zu schreien. Sie kippte das Fenster und ließ das Rollo herunter. Die Nacht war warm; es war gewittrig und schwül. Sie nahm eine rasche Dusche, fühlte sich aber sofort wieder verschwitzt, nachdem sie sich abgetrocknet und ein T-Shirt angezogen hatte. Nach einer Viertelstunde streifte sie es wieder ab, wischte sich den Schweiß von Stirn und Brust und warf es auf den Boden.
Kurz darauf fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
In ihrem Traum war sie zurück in Bø. Allein. Es war später Nachmittag, Hochsommer, die Sonne drückte sich durch die Glaswirbel in den kleinen Scheiben. Um sie herum summten Wespen und Fliegen, und ein warmer Westwind strich singend durch den Wald bis hinauf zu den Felsen.
Irgendetwas stimmte nicht mit der Standuhr.
Die hundert Jahre alte Uhr tickte nicht wie sonst, sondern erzeugte einen durchdringenden Ton. Jemand hatte das schwere Pendel durch eine elektronische Flöte ersetzt.
Sie schlug die Augen auf. Eine lange, angstvolle Sekunde lang befand sie sich noch in Bø vor der alten Uhr und rang in der klammen Dunkelheit des Schlafzimmers nach Luft.
Dann erkannte sie, dass das Handy klingelte.
Sie beugte sich hinüber zum Nachtschränkchen, schaltete die Lampe ein, kniff die Augen wieder zusammen und tastete nach dem Telefon.
Die Ziffern des Radioweckers zeigten null eins, null fünf.
Kristin blinzelte, bevor sie die Annahmetaste drückte.
»Kristin, hallo?«
Ein paar Sekunden lang war es still.
»Hallo?«, wiederholte sie.
Richard? Halvor? Gunnar? Wenn es nur nicht Marcus ist!
»Ich bin’s.«
Die Stimme war leise. Fast flüsternd. Tief, maskulin.
Ich?
Er!
Sie richtete sich im Bett auf, plötzlich hellwach. Das Laken, das sie als Decke nutzte, rutschte über ihre Hüften nach unten.
Mein Gott, er ist es!
»Hast du geschlafen?«, fragte er.
Kurzatmig: »Ja.«
»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken. Aber ich ziehe es vor, ohne diese heimlich lauschenden Gorillas mit dir zu reden.«
Sie hätten vorhersehen müssen, dass so etwas geschehen würde. Ihr Handy hätte auch eine Fangschaltung bekommen müssen.
Sein gedämpftes, heiseres Lachen erinnerte sie an das Geräusch von Sandpapier auf Stein.
»Was wollen Sie?«, fragte sie.
»Ich habe eine Frage… Eine Frage, die du der Polizei stellen sollst. Frag sie…« Er verstummte für ein paar Sekunden. »Frag sie, ob sie die Symbole verstanden haben.«
»Welche Symbole?«
»Sie werden dich verstehen.«
»Wie meinen Sie das? Von was für Symbolen reden Sie?«
Sie hörte, dass er tief Luft holte. Es gab keine Hintergrundgeräusche. Sie stellte sich
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