Tabu: Thriller
Stille.
Sie dachte: Er ist gekommen.
Weniger ein bewusster Gedanke als die Erkenntnis von etwas Unausweichlichem.
Kein Laut.
War er bereits in der Wohnung? War er wie ein Vampir an der Fassade nach oben und dann durch ein Fenster in ihre Wohnung geklettert? Durch das Schlafzimmerfenster? Stand er irgendwo im Dunkeln und beobachtete sie?
Warum hatte sie nichts mit ins Schlafzimmer genommen, mit dem sie sich verteidigen konnte? Wenigstens ein Brotmesser. Oder einen Hammer. Eine Axt. Das Damenmodell einer panzerbrechenden Rakete mit Atomsprengkopf.
Sie wollte rufen. Schreien. Befürchtete aber, er würde sich auf sie stürzen, sobald sie den Mund aufmachte. Sie musste still liegen bleiben und ihn glauben lassen, sie schliefe.
Dann hörte sie etwas. Es konnte Einbildung sein. Oder das Rauschen des Bluts in ihren Ohren.
Die Polizisten mussten tot sein. Er hatte sie getötet, war mithilfe eines Tricks in die Wohnung gelangt und hatte sie mit einem großen Fleischermesser erstochen. Jetzt lagen sie in einer Blutlache im Wohnzimmer.
Während er darauf wartete, dass sie aufwachte.
In der Dunkelheit fühlte sich der Raum eng an. Sie musste sich Mühe geben, ihren Atem unter Kontrolle zu halten.
O lieber Gott, bitte lass ihn nicht hier sein!
Da hörte sie wieder etwas. Einen gedämpften Laut; unbestimmbar, fern.
Sie sah ihn vor sich. Ein kräftiger, grobschlächtiger Mann mit verbissenem Gesicht, struppigen, kurzen Haaren, unreiner Haut und einem glasigen, irren Blick. Starke Hände, kurze, haarige Finger, die einem das Leben aus dem Leib quetschen konnten.
Drinnen im Wohnzimmer hustete jemand. Sie zuckte zusammen.
Eine Stimme. Ådne. Er sagte etwas, über das Gustav lachen musste.
Gustavs Lachen schlug eine Saite in ihr an.
Sie schrie auf.
Im Handumdrehen waren sie bei ihr. Sie hätte ihnen nicht zugetraut, dass sie so schnell waren, in so kurzer Zeit vom Sofa aufspringen, ihre Pistolen zücken, die Tür aufreißen, das Licht einschalten und in den Raum stürmen könnten. Aber das konnten sie.
Ådne eilte zum Fenster und überprüfte das Schloss. Gustav untersuchte Badezimmer und Schrank. Grinsend blickte Ådne unter ihr Bett. Und sie lag die ganze Zeit mit bis zum Kinn gezogener Decke da und starrte sie an.
»Haben Sie schlecht geträumt?«, fragte Ådne.
»Weil Sie geschrien haben?«, ergänzte Gustav.
»Ich dachte…«, begann sie. Ihre Stimme war brüchig. Aber sie wusste nicht, was sie dachte. Sie hatte nicht geträumt. Richtig wach war sie aber auch nicht gewesen.
Ihr Blick fiel auf den Radiowecker auf dem Nachtschränkchen. Null zwei null vier in roten Leuchtziffern.
Bevor sie wieder nach draußen gingen, fragte Ådne, ob er das Licht anlassen sollte. Sie bat ihn, es zu löschen. Damit sie nicht dachten, sie sei ein ängstliches Mädchen, das sich vor der Dunkelheit fürchtete. Doch als sie die Tür geschlossen hatten, knipste sie die Nachttischlampe an. Sie lag wach, bis es hinter dem Rollo zu dämmern begann. Gegen Morgen schlief sie ein.
4
Patrick und Claes brachten die Post mit, als sie Gustav und Ådne ablösten. Eine Telefonrechnung, zwei Reklamebroschüren und ein Brief ohne Briefmarke.
Von der Hausverwaltung?, dachte sie. Vielleicht verwehren sie sich gegen Mieter, die Mörder anzogen.
Aber der Brief war von ihm:
Errette mich, Herr, von den bösen Menschen; behüte mich vor den Gewalttätigen, die Böses planen in ihrem Herzen.
Er war hier gewesen. Gestern oder heute Nacht oder irgendwann am Morgen. Irgendjemand musste unten die Haustürfür ihngeöffnet haben (oder er hatte sich nach jemandem hereingeschlichen; die Tür brauchte ein Vierteljahrhundert, bis sie ins Schloss fiel), und er war über die Treppe bis zu ihrem Briefkasten gegangen.
Fürchtete er denn gar nichts?
Der Tag verging langsam.
Jedes Mal, wenn unten auf der Straße ein Auto hupte oder das Telefon klingelte, zuckte sie zusammen. Alle wollten mit ihr reden. Richard. Gunnar. Halvor. Die Kollegen von den Medien. Zum Schluss zog sie den Telefonstecker heraus. Patrick wurde sauer und informierte Vang, schließlich hatten sie eine Fangschaltung eingerichtet. Für den Fall, dass er auf die Idee kam, ein Schwätzchen halten zu wollen.
Vang sagte, es sei ihre Wohnung und ihr Telefon.
Sie räumte Schränke und Schubladen auf und wischte an Orten Staub, an die sie zuvor noch nicht einmal im Traum gedacht hatte. Ruhelos lief sie von Fenster zu Fenster. Bei jedem Mann um die dreißig, den sie auf der Straße sah,
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