Tabu: Thriller
Anhänger. »Was ist ein Datum? Ein Datum ist nichts anderes als eine Zahl auf einem Stück Papier. Ein Punkt im Universum, den irgendein Idiot beziffert hat. Als ob Zeit eine Linie von chronologischen Abschnitten wäre. Zeit vergeht nicht. Zeit ist ein Zustand. Nur Uhrmacher versuchen, die Zeit einzufangen und in kleinere Einheiten zu zerlegen.«
Die Polizisten tauschten genervte Blicke. Gran verdrehte die Augen.
Vang stellte fest, dass Rita Quist keine Uhr trug. Ihr Armband stellte eine Schlange dar, die sich um ihr Handgelenk wand.
»Welches Datum haben wir heute?«, fragte er.
In ihrem Mundwinkel zuckte ein Muskel. »Ist das wichtig? Sie sollten die Zeit aus einer größeren Perspektive betrachten. Wir stehen früh im Zeichen der Jungfrau. Es ist immer noch August. Ende August. Das hat überhaupt keine Bedeutung.«
Antonsen meldete sich erstmals zu Wort. »Sie waren also mit Rune Strøm zusammen, als die drei Frauen ermordet wurden.«
»Ja doch. Für zwei von ihnen habt ihr ja wohl einen Mordzeitpunkt, oder nicht? Und bei den beiden weiß ich definitiv, dass ich mit Rune zusammen war. Zu dem bedauernswerten Mädchen, das nie gefunden wurde, kann ich herzlich wenig sagen. Jedenfalls war ich in der Zeit, in der all diese grauenvollen Dinge passiert sind, so gut wie jeden Tag mit Rune zusammen. Er hatte gerade seine Mutter verloren, war ziemlich aufgewühlt, das können Sie sich ja vielleicht vorstellen!«
»Wo waren Sie?«
»Wir waren in den Bergen. Zusammen. Rune und ich waren in den Bergen.«
»Welche Berge?«
»Welche Berge, welche Berge? Was ist denn das für eine Frage? Das ist doch egal! Wir waren zusammen. In seiner Hütte. In Valdres.« Ihr Blick bekam etwas Träumerisches. »Wir haben im Dunkeln vor der Hütte gesessen und uns den Himmel angeschaut. Man sieht die Sterne in den Bergen viel klarer, wussten Sie das?«
»Ja doch, aber…«
»Der Blick wird nicht durch die Lichter und die Luftverschmutzung der Stadt getrübt. Man sieht deswegen viel mehr Sterne…«
»Hören Sie…«
»Ja, man schaut tief ins Universum! Das ist fantastisch. Wir saßen draußen und schauten in den Weltraum, und das war wie ein Blick in die Ewigkeit. In die Unendlichkeit.«
»Hat Rune eine Hütte?«
»Es ist doch wohl unwichtig, ob die Hütte Rune gehört. Oder ob er sie gemietet hat. Es spielt keine Rolle. Ich glaube, er hatte sie gemietet. Was ist denn schon Besitz? Mehr als Worte auf einem Stück Papier? Kann man einen Wald besitzen, einen Berg? Wirklich besitzen? Was können wir anderes tun, als in einem Haus zu wohnen? Ich möchte Ihnen dringend ans Herz legen, die Schriften des Indianerhäuptlings Geronimo zu lesen!«
»Wann genau…«, setzte Gran an.
»Wann, wann, wann! Versuchen Sie doch zu begreifen… Daten, Uhrzeiten – das sind die Geißeln des Menschen von heute. Ich habe mich von alldem befreit. Es hat keine Bedeutung mehr für mich. Ich erinnere mich an alles, was wichtig ist! Den Duft des Kamins, das Gefühl des Holzbodens durch meine Strümpfe. Fragen Sie mich Dinge, an die es sich zu erinnern lohnt! Ich weiß noch, wie die Hütte aussah, ein zweistöckiges Holzhaus mit schräg abfallendem Dach unter einem Felsvorsprung. An einem See. In dem haben wir gebadet. Es war eiskalt. Aber wunderbar. Das Wasser aus den Bergen spült allen Dreck aus einem heraus. Sie sollten das auch mal probieren.«
Vang räusperte sich mit Nachdruck. »Sind Sie sich sicher, dass es das Wochenende war, an dem Anita Fjordvik ermordet wurde?«
Rita Quist schien mit einem Mal einzufallen, wieso sie eigentlich gekommen war. »O ja!«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
»Ist es so schwer zu akzeptieren, dass Rune niemandem auch nur ein Haar krümmen könnte? Rune ist endlich zur Ruhe gekommen. In der Verbindung zum Universum.«
»Ich will nur sichergehen, dass wir Sie richtig verstanden haben?«
»Ich weiß, dass wir an dem Wochenende zusammen waren, okay? Ich erinnere mich, dass ich eine Woche später von dem Mord gehört habe.«
»An Anita Fjordvik?«
»Ja! Auf jeden Fall war es eine Frau. Hach, fürchterliche Sache! Ein so kaltblütiger Mord. Und dann verdächtigt die Polizei ausgerechnet Rune! Den liebenswerten, gutherzigen Rune!«
Antonsen fingerte an seinem Kugelschreiber herum. »Woher kennen Sie Rune?«
»Von früher. Das ist lange her. Wir waren in der gleichen Clique. Ich war mit seiner Verlobten befreundet.«
Vang und Gran schauten gleichzeitig auf.
»Meinen Sie Linda?«, fragte Vang.
»Ja.
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