Täuscher
»Herrn Täuscher zusammengetroffen ist«. Er vermeidet jeden Blickkontakt, spricht immer nur von »Herrn Täuscher«, versucht, sich gelassen zu geben.
»Ich bin mit Herrn Täuscher nur sehr oberflächlich bekannt, von einer Freundschaft kann auf gar keinen Fall die Rede sein«, sagt Schinder und weiter: »Ich bin dem Herrn Täuscher hin und wieder begegnet, ja, das möchte ich auch gar nicht abstreiten.«
»Wann hat Ihnen der Angeklagte die Schmuckstücke übergeben?«, will der Richter wissen.
»Ich habe den Herrn Täuscher zufällig am Bahnhof getroffen, und er hat mich gefragt, ob ich die Sachen für ihn verkaufen könnte.«
»Kam Ihnen das nicht seltsam vor, von einem oberflächlichen Bekannten in einer solchen Angelegenheit angesprochen zu werden?«
»Ich habe mir nichts dabei gedacht, Herr Richter.«
»Haben Sie nicht nachgefragt, woher die Sachen stammen?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich habe angenommen, es ist alter Familienschmuck. Herr Täuscher stammt doch aus einer angesehenen Familie. Ich hab nicht geglaubt, dass so ein feiner Herr wie er zu solch einer Tat fähig ist.«
Freitag, 7 . April 1922 ,
Landshut, Martinsfriedhof,
Erika Täuscher,
11 . 38 Uhr mittags
Bis zum Mittagessen war noch etwas Zeit, gerade genug, um mit dem neuen Ball, den ihr der Vater geschenkt hatte, draußen zu spielen. Erika schlich an der Küche vorbei über den Flur, drückte langsam und vorsichtig die Türklinke nach unten und zwängte sich durch den Türspalt nach draußen. Schnell sprang sie die zwei Stufen vor dem Haus hinunter und lief über den Hof. Die Affenschaukeln, zu denen die Mutter ihr Haar geflochten hatte, wippten auf und nieder. Auf der anderen Seite angekommen, zog sie den grünen Wolljanker aus und legte ihn neben sich auf den Boden. Erika warf den Ball gegen die Wand und fing ihn wieder auf. Immer und immer wieder. Die viel zu großen dicken Wollstrümpfe rutschten ihre Beine hinab und schoppten sich über den Knöcheln zusammen. Erika seufzte und unterbrach ihr Spiel, zog eilig die Strümpfe hoch, um gleich weiterspielen zu können.
Als der Ball unglücklich von der Hausmauer zurückprallte und sie ihn nicht mehr fangen konnte, trat plötzlich ein Mann aus dem Schatten der Kirche.
Der Fremde stoppte den rollenden Ball mit dem Fuß, hob ihn auf und gab ihn ihr zurück.
»Da, Mädl, da hast ihn wieder, deinen Ball. Warte mal. Du bist doch die Schwester vom Hubert? Die Erika.«
Sie zuckte zusammen und blickte zu ihm auf. Der Mann lächelte sie freundlich an, aber trotz des Lächelns fand sie ihn nicht nett. Etwas an ihm störte sie.
»Kennst mich nicht? Ich bin der Albert. Ich war mit dem Hubert in der Schule.«
Erika schaute den Fremden, der ihr den Ball hinhielt, schweigend an.
»Ja, du kannst mich ja nicht kennen, du warst ja damals noch ein Butzerl. So klein warst.«
Der Fremde zeigte Erika mit beiden Händen an, wie klein sie damals gewesen war, etwa so wie ihre Babypuppe, die wamperte Bertha. Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Das Gesicht war freundlich, und doch blieb sein Blick kalt.
»Magst ein Guatl?«
Er griff in die Tasche und holte eine Tüte mit Bonbons heraus. Erika schaute stumm zu dem Mann auf, dann zur Tüte und wieder zu ihm. Er sah nicht böse aus, auch wenn sein Gesicht sie an die hölzernen Larven der Kasperlfiguren im Puppentheater erinnerte, er kannte den Hubert, und er wusste ihren Namen. Sie nickte, zögerte. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, kannst ruhig eins nehmen.«
Erika war unentschlossen.
»Ich tu dir nichts. Naschst du auch so gerne wie der Hubert? Komm, wir setzen uns ein bisserl auf die Staffeln dort gleich gegenüber von eurem Haus.«
Dann griff Erika in die Tüte, was konnte ihr schon passieren? Der Fremde wollte sie nirgendwohin mitnehmen, er wollte sich nur hier gleich neben dem Haus auf die Stufen setzen. Sie brauchte keine Angst zu haben. Sie konnte jederzeit nach Hause laufen, und so setzte sie sich neben dem Mann auf die Treppen zur Martinskirche.
»Schmeckt’s, das Guatl?«
Sie nickte kurz, das Bonbon in ihrem Mund schmeckte nach Himbeeren. Der Geschmack breitete sich in ihrem ganzen Mund aus, je mehr sie lutschte, desto intensiver wurde er.
»Magst die ganze Rogl? Kannst sie schon nehmen, ich kann mir eine neue kaufen, und ich mag Guatln eh nicht so gern.«
Erikas Augen leuchteten, sie nahm die Tüte, hielt sie in den Händen wie einen Schatz. Ganz leise, kaum hörbar, brachte sie das erste Wort heraus:
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