Täuscher
Arbeit. Die Menschen glauben, was sie sehen, können die Inszenierung nicht mehr vom alltäglichen Leben unterscheiden. Sie halten die Scheinwelt des Films für die Realität, in der wir leben. Der Film ist ein Blender, und die Berliner Regierung sieht tatenlos zu. Ich sage Ihnen hier, es ist höchste Zeit, einmal ein Gesetz gegen das Kino und zum Schutz unserer Kinder zu erlassen. Ich widerspreche dem Gutachter aufs Energischste, nach meiner Erfahrung mit dem Angeklagten ist bei diesem, aller Wahrscheinlichkeit nach verursacht von der exzessiven Beeinflussung durch den Film, die Großhirnrinde nicht in Ordnung. Unser Gehirn ist nicht dazu gemacht, Szenen in solch rascher Folge zu verarbeiten, es wird krank. Hierzu gab es in letzter Zeit genügend Studien.
Und der Angeklagte bot uns mit seinem Verhalten während der polizeilichen Untersuchung und auch hier vor Gericht des Öfteren ein augenscheinliches Beispiel dafür. Hubert Täuscher ist in einer Scheinwelt gefangen, für ihn ist alles ein Spiel! Er glaubt, er würde wie in einem Film agieren, posieren. Er ist ein bedauerlicher Mensch, denn er hat den Bezug zum wirklichen Leben verloren. Auch dann, wenn er diese abscheuliche Tat begangen haben sollte, was ich bei weitem nicht für erwiesen halte. Zu viele Fragen wurden hier vor Gericht nicht gestellt, zu viele Spuren bei der Untersuchung im Vorfeld der Gerichtsverhandlung nicht weiterverfolgt. Was ist mit dem mysteriösen unbekannten Geliebten der Clara Ganslmeier? Bis zum heutigen Tag wissen wir nicht, ob es sich dabei um eine Person aus Fleisch und Blut oder doch nur um ein Gerücht handelt.
Ich frage Sie, können wir es mit unserem Gewissen vereinbaren, einen Menschen, der in sich selbst gefangen, nicht im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist, für eine solche Tat verantwortlich zu machen? Braucht dieser Mensch nicht vielmehr unsere Hilfe? Er ist außerstande, die Tragweite seines Handelns und deren Unumkehrbarkeit zu erkennen. Er kann sich der Tat nicht stellen und zu ihren Folgen stehen, viel zu weit ist er schon in seine Scheinwelt entrückt. Das Ausmaß seiner geistigen Verwirrung hat er uns während dieser Verhandlung mehr als einmal mit sinnlosen und aberwitzigen Aktionen vor Augen geführt.
Ich widerspreche auch dem Staatsanwalt – ein Mord setzt nach dem Gesetz den Vorsatz voraus und einen niedrigen Beweggrund. Der Vorsatz beinhaltet, dass ich in der Lage bin, mein Handeln selbst zu steuern und Recht von Unrecht zu unterscheiden. Beides liegt meiner Meinung nach hier nicht vor. Der Angeklagte ist verwirrt, irregeleitet und krank. Ich würde mir wünschen, dass er eine angemessene ärztliche Betreuung erhält, und beantrage deshalb, beim Strafmaß nur auf Totschlag zu erkennen.«
Im Anschluss daran setzt sich der Verteidiger Schinders nicht weniger lebhaft für seinen Klienten ein. Dieser könne nicht als Mittäter, höchstens als Mitwisser in Betracht kommen, und er plädiere auf Personenhehlerei unter Zubilligung mildernder Umstände.
Das Schlusswort hat der Angeklagte. Täuscher erhebt sich leichenblass von seinem Platz. Mit gebrochener Stimme sagt er: »Ich war es nicht. Ich bin unschuldig. Ich habe Clara nichts getan. Clara war noch am Leben, als ich sie verließ. Ich will keine Barmherzigkeit, ich will …«
In diesem Augenblick fällt laut krachend ein Stuhl um. Der elegant gekleidete Herr, dem Schinder schon des Öfteren während der Verhandlung zugewunken hat, entschuldigt sich umständlich. Hubert Täuscher starrt ihn an, als wäre er dem leibhaftigen Teufel begegnet. Er ruft laut, fast panisch: »Sie hat gelebt! Clara hat gelebt! Ich habe keinen Mord begangen, ich bin unschuldig!«
Dann bricht er ohnmächtig zusammen.
Nachdem Täuscher von den Sanitätern hinausgebracht wurde, zieht sich das Gericht zurück. Thea Schwankl bleibt weinend auf ihrem Platz sitzen.
»Kommen S’, Fräulein, Sie können hier nicht sitzen bleiben. Das Gericht verkündet das Urteil um fünf Uhr, und bis dahin müssen S’ draußen warten.«
»Werden Sie ihn zum Tode verurteilen?«
»Ich bin nur der Saaldiener, nicht der Richter, ich kann es Ihnen nicht sagen. Wissen S’, Fräulein, Gerechtigkeit wird hier in diesen Räumen meistens nicht geschaffen. Alle, die hier sitzen, haben schon verloren, auf die eine oder andere Art. Den Frieden muss ein jeder dann mit sich selbst finden. Kommen S’, ich helfe Ihnen.«
Der Saaldiener hilft Thea beim Aufstehen und führt sie hinaus zu den anderen.
Um kurz
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