Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
sich geküsst, über einem Abgrund waren sie Hand in Hand den Wanderweg entlanggeschlendert. Aber irgendwann würde sie ihn los- und hinabstürzen lassen.
»Der Meermann hat von drei Wochen gesprochen, in denen er meine Mutter nicht gesehen hat. Das könnte hinhauen. Jedenfalls liegt sie schon seit mehreren Tagen hier.« Mit ihrem kleinen Finger deutete Zarah auf die Verwesungsspuren. »Somit wurde sie nach Oda getötet.«
»Du glaubst, ihr Tod hängt mit der Mordserie zusammen?«
»Du nicht?« Ihr Blick schoss zu ihm hinauf.
»Ui.«
»Was?«
Gallagher zog eine Augenbraue hoch. »Du musst mich nicht sofort zu erstechen versuchen. Ich meine nur, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«
»Keine voreiligen Schlüsse? Dann sehen wir mal«, sie begann an den Fingern abzuzählen, »ein Hinweis hat dich zum Orakel geführt. Jetzt sind wir hier, und das Orakel ist tot.« So verharrte sie, mit dem ausgestreckten Daumen und dem Zeigefinger. Mist.
»Zu viele Finger noch für deine Argumente übrig?« Seine Augenbraue wanderte höher. Nur ein ganz kleines Stückchen, und dennoch unübersehbar.
Besserwisser! Noch ein Argument? Gern! Sie warf ihren Turnschuh nach ihm.
Er duckte sich unter dem Geschoss, das in einer antiken Glasvitrine landete und einem filigranen Tee-Set das Ende bescherte. »Und zu wenig Schuhe, um mich zu überzeugen.«
»Noch einen habe ich.« Zarah packte den anderen an der Hacke und dachte an die löchrige Socke drunter, aus der ihr großer Zeh herausragte.
Gallagher entspannte sich, als keine weiteren Geschosse folgten. »Ende der Überzeugungsarbeit? Verstehe mich nicht falsch, ich möchte dich in deiner Argumentation keineswegs unterbrechen.«
Er trat näher zu ihr. Zarahs Gesicht erhellte sich ein wenig, als hätte sich der Tag endlich getraut, es zu berühren. Sie lächelte auf ihre ganz eigene Weise, bei der man es nicht sah, aber spürte. Er mochte dieses Lächeln. Er spürte ihre Seele darin. Obwohl ihm klar war, dass Dämonen keine hatten.
Dann war das Lächeln vorbei.
»Na gut. Keine voreiligen Schlüsse.« Aus dem Haar der Sirene löste sie zwei Haarklemmen, die an den Schnabel eines Sichelstrandläufers erinnerten, und zog mit ihnen die Ränder der Wunde ein Stück auseinander.
Ihre Nase kräuselte sich nur ein bisschen, während er an dem fischigen Geruch würgte.
»Meinst du, ihr wurden Organe entnommen?« Sie verstärkte den Druck, und etwas Flüssigkeit trat hervor. Rasch wandte er seinen Blick ab. Die Haarklemmen waren tatsächlich aus einem Vogelschnabel gefertigt worden.
»Hör auf damit.« Unwillkürlich presste er sich eine Hand auf den Mund. Wie oft musste man an solchen Einsätzen teilnehmen, um diesen Anblick, ohne mit der Wimpern zu zucken, ertragen zu können? »Ich bin immer noch ein Technik-Fuzzi. Weder Leichenbeschauer noch Sänger.« Er kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. »Der Schnitt sieht jedenfalls ziemlich sauber aus.«
»Ist mir auch aufgefallen.« Ihr unsichtbares Lächeln kehrte zurück. »Wie kommst du jetzt auf ›Sänger‹?«
Ja, wie denn? In ihrer Gegenwart spürte er stets zu viel, alles gleichzeitig und durcheinander. Ein bisschen mehr Dämon und weniger Mensch hätten ihm in manchen Situationen nicht geschadet, ganz besonders in solchen wie dieser, wenn er seine Gefühle erklären musste. »Ich glaube, es gab schon so lange etwas, was ich dir sagen musste, ohne es zu können. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee gewesen, es dir vorzusummen. Aber letztendlich habe ich es dir doch noch gesagt.«
»Gesagt? Was denn?«
»Mal ehrlich, das war doch gerade erst vorhin. So schlecht kann dein Gedächtnis nicht sein.« Er wandte sich ab, um ihren Schuh aus der Vitrine zu bergen. Es gab noch viel mehr zu sagen über einen Kuss, der einst alles zerstört hatte und auch jetzt noch alles zerstören konnte.
»Es hätte ein Gnom gewesen sein können.«
»Äh – was?«
»Träumst du? Ich sagte: Es hätte auch ein Gnom gewesen sein können. Sie sind für ihre Werkzeuge berühmt. Ihre Messer und Äxte sind unglaublich scharf.«
»Ein Gnom ist aber kein niederes Fabelwesen.« Er zog den Turnschuh aus der Vitrine und klopfte die Scherben ab. »Einen Gnom zu kontrollieren dürfte schwierig sein.«
»Er wird stärker.«
»Er?« An der Wand neben dem Schrank war die Farbe weggescheuert. Irgendjemand hatte hier gewischt – so gründlich, dass der Unterputz durchlugte.
Und nicht nur hier. Mehrere Stellen, überall im Raum verstreut,
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