Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde

Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde

Titel: Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O Krouk
Vom Netzwerk:
zurück. Man munkelte, er sei vom Obersten Dämonenrat beauftragt worden, der Sache nachzugehen. Als müsse etwas dran sein an Lores Visionen, sagte man. Zu dem Unfall kam es etwa eine Woche später. Sie durfte noch nicht aufstehen, war noch zu schwach. Kein Wunder, dass sie sich nicht halten konnte und die Treppe hinunterstürzte. Sagte man. Danach sang sie wieder, aber zusammenhangslos und nur für sich selbst, denn die Welt um sie herum hörte auf zu existieren. Ihre seit dem Unfall sehr vagen Orakelsprüche, in die nun jeder etwas hineininterpretieren konnte, was dann für jeden anders in Erfüllung ging, schrieb sie während der Ebbe in das Watt. Und Gaius ging wieder weg.
    »Keine Ahnung, ob das der Wahrheit entspricht«, sagte Zarah nach einer wiederholten Pause und realisierte, dass sie Atemzug für Atemzug doch noch die ganze Geschichte erzählt hatte. »Ich weiß nicht, wen zu sehen ich mehr fürchte: meine gestörte Mutter oder Gaius.«
    »Wenn du möchtest, gehe ich allein hin und versuche, mit ihr zu sprechen.«
    »Nein, das wäre zu gefährlich für dich. Sie ist immer noch eine Sirene, darauf erpicht, einen auf die Insel verirrten, fremden Mann zu ihrem Schatten zu machen und seinen Leib aufzufressen.« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Ich bin so weit. Ich habe ihm in die Augen gesehen, während er mir das Gesicht mit dem glühenden Eisen verbrannte. Das hier muss doch zu schaffen sein.«
    Zusammen verließen sie Norddorf und wanderten den schmalen Weg am Wattenmeer entlang, bis aus einer Baumgruppe ein einsames Haus hervorlugte. Ihr Knöchel schmerzte, ihre Füße fühlten sich in den nassen Turnschuhen wie Eisklumpen an.
    Erst vor der Tür bemerkte sie, dass Gallagher die ganze Zeit ihre Hand nicht losgelassen hatte. Sie betrachtete ihre und seine Finger, die ineinander verschlungen waren. Er bemerkte es, öffnete seine Hand.
    Einige Sekunden lang berührten sie sich noch. Eine Berührung wie ein Flüstern.
    Er lächelte ihr zu.
    Die Tür war nicht abgeschlossen. Zarah klopfte an, erhielt keine Antwort und trat ein. Ein Geruch von Ebbe hatte sich in den Innenräumen eingenistet, als stünden die Fenster sperrangelweit offen. Sie kannte diesen Geruch viel zu gut, denn er hatte ihr ganzes Leben durchdrungen, doch trug diese Luft hier keine Spur von Frische, sondern von verfaultem Fisch, als hätten die Möwen schon seit Wochen Krabbenreste in irgendeiner Ecke zusammengetragen.
    »Ich schaue mich unten um«, sagte Gallagher.
    Sie starrte die Treppe an.
    »Zarah?«
    Sie nickte geistesabwesend. Es war hell, doch es kam ihr vor, als verlöre sich die Treppe im dunklen Schlund des oberen Stockwerks. Warte hier, hatte er gesagt. Die rotbraunen Holzstufen, deren Farbe in der Mitte abgescheuert war.
    Zarah legte eine Hand auf das kalte Geländer. Sie stellte einen Fuß auf eine Stelle, wo die Farbe noch deckte, zog sich hoch, und schon hatte sie die erste Stufe bezwungen. Sie trug keine rosafarbenen Schuhe mit weißer Blume. Aber sie hatte Angst, die Treppe zu erklimmen, ins Bad zu spähen und zu sehen, wie jemand das Gesicht ihrer Mutter gegen den Spiegel hämmerte. Der Unfall …
    »Zarah!«, kam von irgendwoher Gallaghers Ausruf, und plötzlich stockte er, als wäre er sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war zu rufen.
    Sie stolperte, trat daneben und wäre fast von der Stufe gefallen, wenn sie sich nicht am Geländer festgehalten hätte. »Was ist?«
    Sie folgte seiner Stimme, schnell, stürzte beinahe ins Wohnzimmer.
    Auf dem Boden lag ihre Mutter. Mit aufgedunsenem Gesicht und aufgeschlitztem Bauch.

2 4
    Zarah hatte ihn beiseitegeschoben und sich über den Leichnam der Sirene gebeugt. Also stand er da und betrachtete das Gesicht, in dem sich sein Blick in der letzten Zeit so oft verlieren durfte. Der Großteil der Narbe, die von längst getrockneten Tränen zerlaufene Schminke, das immer noch gestylte Haar. Trotz dieser Spuren war sie in diesem Augenblick mehr Dämonin denn je. Sie war ein Profi an einem Tatort. Gleich würde sie die Latex-Handschuhe überziehen und einen Magie-Scanner aus ihrer Tasche hervorholen. Ihre Züge wirkten hart, wenn sie so konzentriert vor sich hin starrte, und Welten entfernt von dem Mädchen, das gelernt hatte zu fühlen.
    Er spürte Erleichterung, weil er kein schluchzendes Häufchen Elend trösten musste, und Ernüchterung, weil es ihm die Kluft zwischen ihr als Dämonin und ihm als Menschen umso eindringlicher in Erinnerung rief. Über einem Abgrund hatten sie

Weitere Kostenlose Bücher