Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
Zarah. Ich biete dir einen heißen Tee an, und du schenkst mir dafür bloß kalten Kaffee ein. Sicherlich ist dir bekannt, dass der Verrückte vom Bahnhof bei der Razzia erschossen wurde. Zugegeben, nicht ganz geplant. Und der Pferdehof wurde erst vor wenigen Stunden von deinen Kollegen auseinandergenommen. Du willst mich doch nicht wirklich so enttäuschen, oder?« Mit kreisenden Bewegungen schwenkte er die Kappe der Thermoskanne – und kippte sie über Enyas Oberschenkeln aus. Das Mädchen zuckte zusammen und stieß ein Wimmern hervor.
Zarah schoss von ihrem Stuhl hoch, doch Abbas hielt sie mit einer beschwichtigenden Geste und seiner Hand, die nahezu liebevoll über Enyas Nacken strich, zurück. Ein Druck, und er würde dem Mädchen das Genick brechen. »Wie ungeschickt von mir. Ich fürchte, das gibt hässliche Blasen. Hoffentlich passiert mir das nicht noch einmal. Fangen wir ganz von vorn an: Was hast du für mich, Zarah?« Er füllte die Kappe erneut.
Die Tischkante, an die sie sich klammerte, drückte sich schmerzhaft in ihre Handflächen. Zarah zwang sich, sich hinzusetzen und die Zähne, die sie zusammengebissen hatte, zu lösen. »Dann weißt du sicherlich auch, wer Ghost ist.«
»Gallagher, ja, hätte ich nicht gedacht. Wir haben – du wirst es nicht glauben – einen anonymen Hinweis vonseiten der Engel bekommen. Nun. Dann reden wir mal über Gallagher. Er ist unserem Einsatzkommando entkommen – wie das?« Abbas nahm die Kappe und roch genüsslich an dem Tee.
»Er hat eine Gute Fee.«
»Name?« Die Kappe schwebte über Enyas Brüsten.
In Zarahs Ohren klingelte Friedberts hohe, vor Entrüstung beinahe klirrende Stimme: Na toll. Verrate es der ganzen Welt. Es ist ja auch nicht so, als könne man, wenn man den wahren Namen einer Fee kennt, eine unglaubliche Macht über sie ausüben. Und Gallaghers ruhiges Timbre: Um über dich zu herrschen, braucht man schon etwas mehr als nur deinen Namen. Außerdem habe ich Zarah schon viel bedeutendere Informationen anvertraut, und trotz unserer Differenzen hat sie mich noch nie hintergangen.
Enyas schmerzhaftes Keuchen riss sie aus den Gedanken. Das Mädchen krallte die Hände in den eingerissenen Stoff ihres Nachthemdes, die Kappe war leer.
»Friedbert, er heißt Friedbert!« Zarah bemerkte, wie Enya den Kopf hob, und für einen Wimpernschlag erhaschte sie einen Blick in die fast entseelten Augen. »Verdammt, hör auf, sie zu quälen, ich sage dir alles, aber lass meine Schwester in Ruhe!«
»Gut, ich sehe, wir fangen an, uns zu verstehen.« Mit langsamen, bedächtigen Bewegungen schenkte er sich erneut Tee ein. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr einen Ausflug unternommen habt. Wohin ging es?«
»Nach Amrum. Wir verfolgen die Spuren der Mordserie, bei der auch Oda umgekommen ist. Entgegen deinen Vermutungen stecken nicht die Rebellen dahinter«, stammelte sie, so schnell sie konnte, noch bevor Abbas die Kappe vom Tisch hob. »Meine Mutter hat in die Richtung prophezeit. Wenn ich es richtig deute, geht es um einen Auserwählten, der die Welt verändern oder zerstören will. Er bereitet sich auf einen Zauber vor, worauf auch die Organentnahme bei den Opfern hindeutet. Ich glaube, er hat meine Mutter umgebracht und ihre Prophezeiungen vernichtet, damit sie ihn nicht verraten kann. Aber uns ist es gelungen, die Sprüche wiederherzustellen.«
Abbas stellte die Ellbogen auf den Tisch, blies in den Tee und nippte tatsächlich daran. »Das geht also nicht auf das Konto der Rebellen. Hm. Hast du schon einen Verdacht, wer dann dahintersteckt?«
»Vage.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Daimon. Wenn du in den alten Akten nachschaust, wirst du feststellen, dass er bereits im frühen Alter mit dem Morden angefangen hat. Vielleicht hatte er das Ritual schon damals versucht, besaß aber noch nicht die entsprechenden Kräfte dafür. Er ist ein Dämon, der in einer Menschenfamilie aufgewachsen ist, musste sich stets verstellen – kein Wunder, dass sich da in ihm viel Hass aufgestaut hat. Unter anderem auch auf die Nachtseite und den Obersten Dämonenrat, der ihn nach dem Mord an seinem menschlichen Erzieher jagte. Jetzt will er sich rächen. Das Herz hat er seiner menschlichen Erzieherin entnommen; es war für ihn nicht schwer, ihr aufzulauern. Der Überfall sollte wie ein Formwandler-Angriff aussehen, mit Ash und mir konnte er natürlich nicht rechnen. Ohne uns wäre keinem aufgefallen, dass der Angriff überhaupt nicht formwandlertypisch abgelaufen war. Die Augen hat er
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