Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
verblasste bereits. Schon bald würde alles in die Vergangenheit zurückgleiten. Zumindest hoffte ich das.
Ich lief, bis ich den Ort nicht mehr wahrnehmen konnte und schließlich irgendwo im Nirgendwo landete. Vielleicht gab es einst Felder hier, heute überwucherte alles nur noch Gestrüpp. Hügelauf, hügelab.
Ich hielt einen Stein in meiner Hand, den ich wohl aus den Trümmern mitgenommen hatte. Was wollte ich damit? Wonach suchte ich?
›Dann nimm drei Haselstäbe oder Ruthen von jährigem Schuss, schäle sie fein und weiss und mache sie so lang als du des Geistes oder der Fee Namen schreibst, die du citiren willst, und jeder Stab muss an einer Seite dreimal platt gemacht werden.‹
Genau. Ich wollte meinen ersten Dominostein zu Fall bringen.
Ich schaute mich um. Das Gestrüpp. Hier könnte ich mich botanisch nur dann orientieren, wenn alles fein säuberlich beschildert gewesen wäre. Besonders jetzt, im Winter, sah alles so gleich aus. Ich setzte mich auf den eisigen Boden und hob meine Arme. Die Luft klirrte um meine Fingerspitzen, die Magie lechzte nach meinem Zauber.
Diesmal war es der Tanz der Zuckerfee von Tschaikowsky, mit dem ich um Hilfe bettelte. Eine Melodie, die sich in meinem Verstand so schön, verspielt, leicht und gleichzeitig beinahe gruselig entfaltete. Ich flehte und lockte mit all meiner Hingabe.
Drei Haselstäbe fielen in meinen Schoß, ein Namensbuch und ein Bleistift. Meine Arme erschlafften, und ich sank in mich zusammen. Die Kälte fraß sich in meine Knochen. Mehrere Minuten lang konnte ich nichts tun, erst dann richtete ich mich auf und begann meine Arbeit, pulte die Rinde von den Ruten ab und schlug die Stäbe dreimal platt. Im Namensbuch blätterte ich bis zum Buchstaben F: Fridolin, Fridunanth, Fridurich … Friedbert. Bedeutung: Glänzender Beschützer. Da war er, der wahre Name meines Dominosteins.
Ich nahm den Bleistift, der meinen klammen Fingern zu entgleiten drohte, und kritzelte den Namen auf die Ruten. Als ich aufblickte, stand sie da, die denkbar unwahrscheinlichste Person, die mich bei meinem Vorhaben stören konnte.
»Du?«, flüsterte Gallagher und eine Erkenntnis schälte sich auf seinem Gesicht. Ich, seine magische Erscheinung, die ihn von Amrum aus begleitet hatte. »Du?«
Ich hätte beinahe dasselbe geflüstert. Du, mitten in diesem Gestrüpp, wo ich gerade dabei bin, deinen Freund …
Alles in der Welt hängt zusammen. Wenn dem Schützling einer Fee Gefahr droht, spürt die Fee dies und erscheint an seiner Seite, um ihm beizustehen. Ich hatte noch nie davon gehört, dass dieses Phänomen auch umgekehrt wirkte. Aber anscheinend doch. Denn wie sonst hätte Gallagher jetzt direkt vor mir stehen können?
Es lief falsch. Falsch, falsch, falsch. So hatte ich das doch nicht geplant!
Ein Zweig knackte unter seinem Schuh, als er sein Gewicht verlagerte. »Du?«, wiederholte er, und ich spiegelte mich in seinen Augen einem Gespenst gleich.
»Ja. Ich. Und was tust du hier?«, fragte ich.
Er sah sich um, etwas ratlos, da er merkte, dass er sich nicht dort befand, wo er hätte sein sollen. »Ich suche Zarah. Sie wird vermisst.«
»Nun. Hier ist sie nicht.«
»Das sehe ich.« Sein Blick blieb an den Ruten hängen, erfasste den Namen. Ich hielt meine Hand darüber – zu spät.
»Weg damit!« Er stürmte auf mich zu, ich sprang auf, umklammerte den Bleistift mit einer Faust, mit der anderen die Haselnussstäbe.
Ich tat nichts.
Überhaupt nichts.
Ich hätte es schwören können.
Die Spitze des Bleistifts bohrte sich in seine Handfläche, als er mir ihn und die Ruten entreißen wollte.
Er stieß einen überraschten Ausruf aus, taumelte zurück. Ein Tropfen Blut quoll an die Oberfläche. Ein schwarzer Tropfen.
Vielleicht war es doch kein Schützling-Fee-Phänomen, das ihn zu mir geführt hatte. Vielleicht war es sein Fluch, der ihn jetzt wie schwarzer Nebel umhüllte und den vor so vielen Jahren in die Welt entlassenen Spruch mit Rauchfäden um seinen Körper wob.
… weil ihr mich nicht gebeten, so sage ich euch, daß euer Sohn an einem Bleistift sich stechen und todt hinfallen wird …
Tot! Nein, unmöglich, nein!
Er durfte nicht sterben, nicht jetzt. Ohne ihn würde doch überhaupt nichts funktionieren.
Ich hob meine Arme zu dem Luftklavier, während der Fluch ihn immer weiter einhüllte und den Atem aus ihm presste.
Meine Darbietung musste das Leben heraufbeschwören, das absolute Leben. Ich strengte mich an, aber alles, was in meinem Kopf klimperte,
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