Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
Bei dem endlosen Gerede, Argumentieren, Abwägen hatte sie sich fehl am Platz gefühlt. Noch mehr hatte ihr zugesetzt, mit ansehen zu müssen, wie Gallagher und Giulia die Köpfe über dem Tisch zusammensteckten und diskutierten, diskutierten, diskutierten. Als Zarah fortgeschlichen war, hatte Gallagher keine Notiz davon genommen. So viel zu ›Ich brauche dich‹. Nein. Im Moment brauchte er Giulia, deutlicher hätte er es ihr nicht machen können.
Zu Fuß hatte sie Klein Hansdorf erreicht, so sehr in Gedanken versunken, dass sogar die Nebelgestalten des Erlkönigs es für besser hielten, sie in Ruhe zu lassen. Sie machte einen Bogen um das ehemalige Seniorenheim, um der Perchta nicht über den Weg zu laufen, und steuerte ans andere Ende des Ortes zu einem Haus, in dem Abbas auf sie warten sollte. Nun stand sie vor der angelehnten Tür, und ihr wurde klar, was sie gerade tat. Giulia und Gallagher hatten sie so viele Gedanken gekostet, dass sie gänzlich verdrängt hatte, dass sie dabei war, ihn und seine Leute zu verraten.
Sollte sie doch lieber umkehren? Und Enya den Gelüsten eines alten Ghuls überlassen? In ihrem Kopf liefen die Szenen ab, was er mit dem Mädchen machen würde, bevor er es endlich tötete.
Sie ballte die Hände. Ihr Aufschrei, vor Wut und Verzweiflung verzerrt, übertönte das Bersten der morschen Tür, die sie nach innen trat. »Klopf, klopf, ich bin da – wer noch?«, rief sie in den Flur.
Das Haus lauschte auf ihre Schritte und stöhnte wie unter Zahnschmerzen, wenn sie auf ein lockeres Brett trat.
»Zarah …« Ihr Name, weich und zaghaft gesprochen, erklang in der Dunkelheit.
»Enya!« Sie lief der Stimme entgegen. Ihre Schwester kauerte auf einem Hocker am Tisch. Ein kränkliches Menschenmädchen, dessen Zerbrechlichkeit auch Zarah schwächte, heute so sehr wie nie.
Aus einer dunklen Ecke schälte sich Abbas. Gemächlich durchquerte er das Zimmer und blieb hinter Enya stehen. Seine Hand krallte sich in die Schulter des Mädchens. »Zarah, mein lieber Schnuller, hast du mich mit deinem Auftritt erschreckt. Ich habe ganz deine Angewohnheit vergessen, mit der Tür ins Haus zu fallen.«
»Ich wollte mir nur einen Fluchtweg freihalten.«
»Vor wem willst du denn fliehen? Wir sind unter uns. Du stehst bloß deiner Schwester und deinem Vorgesetzten gegenüber, der es kaum erwarten kann, dich endlich zu rehabilitieren und zu befördern. Setz dich doch.«
Zarah ließ sich auf dem Stuhl nieder, der ihrer Schwester gegenüberstand. Enya trug immer noch dasselbe Nachthemd, das jetzt eher einem besudelten Lappen als einem Kleidungsstück ähnelte. Vorn war der Stoff eingerissen und klaffte auf. Durch den Spalt waren die bleichen Hügel der immer noch kaum entwickelten Brüste zu sehen.
»Enya, wie geht es dir?«
Das Mädchen senkte den Kopf tiefer, das lange Haar, das sein Gesicht verhüllte, wies jeden Blick, jedes Wort ab.
»Enya, bitte, schau mich an.« Zarah ließ ihren Arm über die Tischplatte gleiten, doch ihre Schwester zog die Hände zurück. Zarah verharrte. Die Abweisung schmerzte beinahe körperlich.
»Sie hat die lange Fahrt hierher schlecht verkraftet. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Zarah. Ich halte mein Wort und kümmere mich um sie, während du beschäftigt bist. Hoffentlich hast du etwas für mich, denn ich weiß nicht, ob die Kleine in ihrer derzeitigen Verfassung die Fahrt zurück heil überstehen wird, sollte sich herausstellen, dass wir uns umsonst hierherbemüht haben.«
»Das wird sich nicht herausstellen.« Ihr Ton klang hohl wie das verlassene Klein Hansdorf. In den angespannten Muskeln breitete sich ein Ziehen aus, während sie immer noch versuchte, Enya ins Gesicht zu schauen.
»Sehr gut.« Er setzte sich neben Enya. »Ach, möchtest du vielleicht einen Tee? Ich habe welchen in einer Thermoskanne mit.«
»Nein, danke.«
»Du weißt gar nicht, was dir entgeht.« Er zog unter dem Tisch die Kanne hervor, schraubte die Kappe ab und goss sich die Flüssigkeit ein, welche dampfte, als wäre das Wasser gerade eben zum Sieden gebracht worden. »Dann lass mal hören, was du für uns hast.«
Sie atmete tief durch. »Ich bin noch nicht lange bei den Rebellen. Und sie scheinen mir nicht ganz zu vertrauen. Aber ich weiß, dass sie über ein gutes Netzwerk verfügen. Der Prediger mit dem Kreuz am Hauptbahnhof – sein Name ist Tschak – beschafft für sie Autos. Vermutlich ist er nicht allein. Und vom Pferdehof in Timmerhorn holen sie sich …«
»Zarah,
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