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Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde

Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde

Titel: Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O Krouk
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die auf sie einschlagen. Sie kann ihnen nicht entkommen.
    … omnis satanica potestas …
    Tara umarmt die Bäume, lacht zum Himmel und schüttelt den Kopf. Du wirst es schon schaffen, hast du gesagt. Du hast mich angelogen, Dämonin. Miese Verräterin.
    Durch den Nebel brechen Lichtstrahlen, äschern die Pferde ein, lassen Tschak im Boden versinken, der sich wie ein Schlund unter seinen Füßen auftut, spülen Tara mit ihrem eigenen Blut fort.
    Bist du auch tot, Ash? , flüstert Zarah der Silhouette entgegen, die auf sie zuschwebt.
    Ich leuchte noch.
    Ich wollte dich nie wieder sehen, Ash.
    Ich weiß. Komm, ich bringe dich hier weg.
    Ich meine das ernst, Ash. Ich will dich nie wieder sehen, fühlen, denken …
    Er umarmt sie. Sie fühlt sich nackt in seiner Umarmung. Alles strahlt von seiner Heiligkeit, nur sie – will nicht. Sie will nicht, dass er sie liebt. Sie denkt an Gallagher.
    Vielleicht ist sie tot.
    Zarah öffnete die Augen. Das Licht blendete sie. Sie kniff die Lider zusammen, schirmte die Augen mit einer Hand ab, weil das Licht dennoch hartnäckig und uneingeladen in ihre Dunkelheit drang. »Ash? Bist du das?«
    Sie wagte es, die Augen erneut zu öffnen. Das Licht war künstlich und bunt. Riesengroße, leuchtende Buchstaben: Hamburger Winterdom. Eine Fressbuden- und Freakattraktion, die das Ende der Welt überlebt, sich jedoch um einige Wochen nach hinten verschoben hatte, da in den Raunächten kaum jemand mehr arbeitete. Die Leuchtreklame mit dem Riesenrad zierte traditionsgemäß den Horner Kreisel in Hamburg, nicht des Erlkönigs Wald. Wie lange war sie ohnmächtig gewesen? Wie war sie hierhergekommen?
    Vor allem aber: Wohin jetzt mit dem, was von ihr noch übrig war?
    Bei Abbas brauchte sie sich nicht blicken zu lassen, wie sollte sie auch im Alleingang Enya seinen Klauen entreißen? Gallagher wusste von ihrem Verrat und würde vermutlich selbst vollbringen wollen, was seine Leute nicht geschafft hatten. Friedbert freute sich mit Sicherheit, sie losgeworden zu sein, ohne dass es seinem Schützling das Herz brach. Eine Runde Happy End für alle, Herr Ober.
    Sie steckte die Hände in die Jackentaschen und ging, ohne bestimmtes Ziel, einfach nur los. Am Ende stand sie irgendwann vor dem Hauptbahnhof. Es wunderte sie nicht im Geringsten, auf das imposante Gebäude zu blicken und sich zu fragen, was sie hierher verschlagen hatte.
    Die Lautsprecher umgarnten sie mit Piazzollas Oblivion . Ein Weilchen stand sie unter dem Vordach und lauschte der Musik. Ein Zauber lag darin. Die sich immerzu wiederholende Sequenz ließ den Geist abstumpfen, der Klang der Melancholie machte träge und gleichgültig. Die Razzia hatte keine Spuren an diesem Ort hinterlassen, das vermochte keine Kraft der Welt. Sobald sich die Wogen glätteten, krochen die Elenden und Verstoßenen an ihre Plätze zurück, um dem Ende entgegenzuvegetieren.
    Langsam durchschritt Zarah die Wandelhalle , strauchelte im Schutt und passte auf, über keinen Körper zu stolpern. Sie suchte sich eine Ecke, wo sie bleiben konnte. Jede freie Stelle war so gut wie jede andere, aber sich hinzusetzen bedeutete, alles aufzugeben. Unwillkürlich ging sie den Weg, den sie damals, an Alessa gekettet, geflohen war. Nur gab es diesmal kein Entkommen. In den Gängen zur Linie U2 erkannte sie an einer Wand den Punk, der den Kopf in den Bauch seines Hundes grub und schlief. Er musste ihre Anwesenheit gespürt haben, drehte sich um und rieb sich die verklebten Augen.
    »Hey«, sagte sie. Dann sagte sie plötzlich: »Es tut mir leid, wegen des Vorfalls damals.«
    Sein glasiger Blick ging durch sie hindurch.
    »Ich habe dir auf die Nase geboxt, weißt du noch? Ich möchte mich entschuldigen.«
    Er murmelte etwas und drückte das Gesicht wieder in das Fell des Hundes, der sich nicht mehr rührte.
    Zarah zog die Jacke enger um sich. Etwas Rechteckiges, Festes schmiegte sich an ihre Brust. Sie zog das Buch hervor und schlug es auf. Leer und jungfräulich, verletzt durch den Schnitt einer Messerklinge. Das zweite Blatt – ebenfalls leer. Sie drückte den Daumen gegen den Buchschnitt und ließ die Seiten vorbeischnellen. Keine einzige Notiz.
    Eine Weile stand sie da und strich über den Einband. Das Leder war weich, an den Kanten abgerieben und an mehreren Stellen von menschlichen Fingern poliert.
    Der Punk sprach und stöhnte im Schlaf. Nein, sie würde nicht so enden, auf keinen Fall.
    Sie schlug das Buch erneut auf, zählte die Seiten ab, bis sie bei 68 angelangt war.

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