Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
Dort war nichts, keine Knicke, keine Hinweise. Sie neigte und drehte das Buch hin und her, bis sie irgendwann doch etwas zu sehen glaubte: Buchstaben, Wörter. Den Abdruck, den ein Stift beim Schreiben hinterlassen hatte, ehe die beschriebenen Seiten von jemandem sauber entfernt worden waren.
Sie sprang auf die Beine und lief durch die Gänge, suchte nach etwas, was ihr helfen könnte, den Abdruck besser zu lesen. Schließlich gelangte sie nach draußen. An einem Mülleimer entdeckte sie Rußspuren, anscheinend hatten die Menschen, die noch irgendetwas zu spüren vermochten, hier Feuer gemacht und sich daran gewärmt. Sie wühlte in der Asche, bis sie ein Stück Kohle zu fassen bekam und damit über die Seite fuhr. Nach und nach wurde der Abdruck deutlicher.
Es handelte sich um zwei Texte, die sich überlappten, was das Lesen nicht gerade erleichterte. Der eine wurde klar und gerade niedergeschrieben, mit gleichmäßigem Abstand zwischen den Zeilen und runden, ausgewogenen Buchstaben. Der andere ähnelte eher einer Kritzelei, die Wörter standen kreuz und quer auf der Seite, ohne dass sie einen Anfang und ein Ende ergaben.
Zarah brauchte lange, bis sie die Texte entziffert hatte. Bei dem ersten, ordentlichen, handelte es sich um einen Brief:
Lieber Daimon,
ich weiß nicht, ob du diese Zeilen lesen wirst, ich hoffe inständig darauf. Die Engel haben mich gesegnet und mein magiesensibles Herz geöffnet. Jetzt bin ich ihre Prophetin. Anscheinend eine ganz passable. In meiner ersten Trance habe ich nämlich etwas sehr Schlimmes vorausgespürt.
Weißt du noch, wie wir herumgealbert haben, als du noch ein Kind warst? Wer spinnt die merkwürdigste Wettervorhersage zusammen. Meine wird diesmal gewinnen: Das Tief Hans-Uwe zieht von dem Atlantik rüber, bringt Dauerregen und Stürme mit sich. Die Bevölkerung wird vor dem Ende der Welt gewarnt.
Aber ich schweife ab, verzeih mir. In der Trance habe ich meinen Tod gespürt, der mit dem Ende der Welt zusammenhängen wird. Und ich habe auch dich gespürt, Daimon, direkt mittendrin. Du weißt, ich mache mir Sorgen um dich, habe sie mir schon immer gemacht. So sind Mütter nun einmal. Was auch immer dich dazu bringen soll, etwas zu tun, was dich in die Geschehnisse hineinzieht, ich beschwöre dich: Tu’s nicht.
Anbei schicke ich dir die Zeilen, die ich in Trance aufgeschrieben habe. Außer dir wird niemand etwas davon erfahren.
In Liebe,
Helena, die 12 Jahre lang deine Mom sein durfte.
PS: Ich werde niemals vergessen, was du für mich getan hast. Welche Schuld du auf dich laden musstest, um mich zu befreien.
Der gekritzelte Text zeigte auch nach allen Mühen kaum Struktur. Zarah versuchte, die Wörter nach Gefühl einzuordnen:
Der Auserwählte. Den Auserwählten erschaffen. Der Auserwählte der Magie, magiesensibel, magiegleich. Das Ende. Alles hat ein Ende. Menschendämonen, Dämonenmenschen. Zwillingsbrüder, Zwillingsschwestern, Zwillingsbrüder. Sterne, Mond, Vollmond. Neugeboren, Unschuldslamm – eine magische Brücke. Feuer. Wasser. Wasser verletzt das Feuer. Engelslicht. Der Tod ist nur der Anfang. Unausweichlich.
Geräuschvoll schlug sie das Buch zu. Und jetzt? Daimon jagen?
In ihren Ohren klang Piazzollas Oblivion nach, das Wimmern der Elenden, ihr eigenes Stöhnen.
Erst einmal schlafen.
Nur ein bisschen.
Sie war so müde.
Sie zog sich zurück in die unterirdischen Gänge, fand ein Plätzchen zwischen den menschlichen Körpern, in denen noch Leben schlummerte, und rollte sich zusammen, den Kopf auf das Buch gebettet. Der Schlaf wollte nicht kommen. Sie schwebte in einem Dämmerzustand, bei dem jedes Geräusch aus der Wirklichkeit sich mit ihren traumverlorenen Gedanken vermischte. Ab und zu stürzte sie ins Nichts, tauchte erschrocken wieder auf und wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, glitt erneut davon, sobald sie die Augen zumachte.
Irgendwann registrierte sie, wie sich etwas in ihrer Umgebung verändert hatte. Sie stöhnte, unwillig, aus der Apathie aufzutauchen. Die Wirklichkeit fühlte sich beinahe klebrig an, erinnerte sie an Taras Blut, das noch an ihr haftete.
»Zarah? Bist du es?«
Im ersten Moment wusste sie nicht einmal das, dann nickte sie, aus Gewohnheit.
»Zarah, ich bin’s. Erkennst du mich?« Die Stimme klang hoch, zaghaft, aber vertraut. Die Konturen des Mädchens vor ihr gewannen an Klarheit.
»Lll-essa?«
»Ich habe dich gesucht, Zarah.«
»Und wie hast du mich gefunden?«
Das Mädchen hockte sich vor ihr hin. »Weißt
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