Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
noch, wie Daimon sich zu mir beugte und mich ganz komisch ansah. Willst du, dass ich dir einen Zauberspruch beibringe?, hat er gefragt. Ich nickte. Dann sprich mir nach: Sesam öffne dich. Er sagte es immer wieder, während er irgendetwas auf meine Handfläche zeichnete, und ich musste es wiederholen, wiederholen, wiederholen. Ich dachte, es wäre ein Spiel. Er spielte so oft mit mir. Dann hat er meine Mutter im Bad eingesperrt, mich in mein Zimmer gebracht und in einen Schrank gesteckt. Er gab mir einen Musikplayer mit Kopfhörern. Keine Ahnung, woher er das Ding hatte. Er sagte, ich sollte ihn laut stellen, wir würden mit Papa Verstecken spielen. Ich hatte bis dahin noch nie irgendwelche Lieder gehört, außer wenn meine Mutter mir heimlich vorgesungen hat, und war völlig aus dem Häuschen. Dann kamen die Aufseher. Irgendwann. Ich hatte völlig das Zeitgefühl verloren. Einer von ihnen hob mich aus dem Schrank und trug mich in den Flur, an der Badtür vorbei. Das Holz war mit Zeichen vollgeschmiert. Blut, wie ich später erfahren habe – Daimon hatte die Tür mit Runen verriegelt. Ein Magier des Ordnungsamtes mühte sich ab, den Zauber zu durchbrechen. Der Beamte, der mich trug, fragte, ob ich wisse, wo mein Bruder sei. Ich antwortete, er würde Verstecken spielen. Der Beamte fragte, was mein Bruder mir denn als Letztes gesagt hätte. Ich erzählte von der Sache mit dem Player, schaute das Zeichen auf meiner Handfläche an und sagte: ›Sesam öffne dich.‹ Die Badtür sprang auf. Meine Mutter saß auf dem Klodeckel, die Hände im Schoß zusammengefaltet, ganz ruhig. Dann erhob sie sich und ging hinaus, als wäre nichts geschehen. Sie stand unter Schock, sagten die Beamten. Schließlich war es zu viel für einen Menschen, wenn der Sohn den eigenen Vater umbrachte und die Mutter mit magischen Runen im Bad gleichsam einmauerte.«
»Moment mal. Daimon hat die Tür mit Runen versiegelt, und der Magier des Notdienstes konnte sie nicht aufbrechen? Wie alt war er damals? Ich meine, Daimon.«
»Zwölf.«
»Niemals! Du verarschst mich, oder?«
»Zwölf.« Alessa überlegte kurz. »Und sieben Monate. Wenn du es genau wissen willst.«
Zarah stand auf, machte ein paar Schritte. Ihre Gedanken überschlugen sich. »Ein Dämonenkind trägt von Geburt an Magie in seinem Blut. Es kann sie nur nicht nutzen, bis es seine Zwiegestalt bekommt. Außer, es greift auf Hilfsmittel zurück, sollte es überdurchschnittlich magisch begabt sein. Runen sind ein solches Hilfsmittel. Aber mit zwölf? Unvorstellbar. Er müsste ein magisches Genie sein.« Runen … Ihr Blick heftete sich auf Alessa, und für einen Moment wurde ihr schwindelig. »Weißt du zufällig, in welchem Zustand sich die Leiche deines Vaters befand, als er gefunden wurde?«
»Er … er wurde … in Stücke gerissen.«
»Fehlten ihm Organe? War er vielleicht Opfer eines Rituals geworden?«
Alessa würgte. »Du meinst, wie das Huhn?«
Schlimmer. Bei Menschen war es immer schlimmer, denn dadurch konnte die Energie noch besser gebunden und übertragen werden. »Ja, so ähnlich.«
Alessa starrte vor sich hin, ohne sich zu bewegen, die Augen leer. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er wurde regelrecht zerfetzt. Ich glaube, sie haben ihn nie vollständig zusammenbekommen. Kann sein, dass ihm Organe entnommen wurden.«
»Das habe ich mir gedacht.« Sie ließ sich zurück auf das Bett fallen. »Cleverer Junge.«
Clever und mächtig. Eine furchterregende Kombination. Wenn er schon mit zwölf die Magie so wirkungsvoll bändigen und leiten konnte, was konnte er da wohl jetzt, nach Erreichung der magischen Volljährigkeit?
»Ich nehme an, nach Daimon wurde gefahndet?«
»Mein Vater war ein Günstling der Nachtseite. Sehr hochgestellt durch einen Pakt, den er mit den Dämonen geschlossen hatte. Folglich war Daimon der meistgesuchte Verbrecher Hamburgs.« Alessa schnaubte und endlich, endlich zeigte ihr Gesicht etwas Gefühl. »Aber wenn Daimon Verstecken spielte, konnte niemand ihn finden.« Das Mädchen lehnte sich warm und mit einem Mal erschöpft gegen Zarah. »Nach dem Tod meines Vaters haben wir unsere Privilegien verloren. Nicht selten habe ich versucht, meine Mutter auf den Tag, an dem er ermordet wurde, anzusprechen, aber sobald ich auch nur ein Wort darüber verlor, verhielt sie sich so wie damals, als die Tür im Bad aufgebrochen worden war. Sie stand auf und ging hinaus. Nach den vorgeschriebenen sieben Jahren Trauerzeit hat meine
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