Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
Mutter erneut geheiratet. Ihren alten Freund aus Jugendzeiten. Den Mann, den du bei dem Formwandlerangriff gesehen hast. Ich habe ihn Papa genannt und es auch so gemeint. Er … er fehlt mir, Zarah. Und meine Mutter. Und … und wenn ich allein bin, habe ich schreckliche Angst, dass mir nach und nach immer mehr Menschen fehlen werden. Verstehst du?«
Zarah legte einen Arm um sie. Dachte an Gallagher.
»Ja. Ich verstehe.«
Lessas Angst wurde zu ihrer eigenen Angst.
1 9
Er hätte auch am nächsten Tag längst zurück sein sollen. Genauso wie am übernächsten.
Wenn Zarah auf dem Fensterbrett kauerte, konnte sie die Straße sehen, das Backsteingebäude mit der Aufschrift ›Sparkasse‹, links davon einen kleinen Teich, umgeben von einem Geländer. Sie wusste nicht, in welcher Richtung sie Ausschau halten sollte, aber wenn sie die Schläfe gegen die Fensterscheibe drückte, konnte sie bis zur Kreuzung blicken, die ihr etwas zu versprechen schien. Doch die Tote Stadt blieb tot, egal wie sehr sie wartete, hoffte und bangte.
Das Schloss klackte, die schiefe Tür schabte energisch über den Boden. Zarah schaute nicht hin, da ihre Besucherzahl stets sehr überschaubar bei einer Person blieb, doch diesmal klang das Aufschlagen von Absätzen zu fest für Alessas Schritte. Alessa bewegte sich eher wie eine Säbeltänzerin eines modernen Amazonen-Clans. Man hörte sie nicht kommen, und man nahm sie bis zuletzt nicht ernst.
Also schaute sie doch hin.
»Zarah, nicht wahr?« Eine junge Frau stolzierte herein, mit einem Hüftschwung, der die Weltmeere zum Wellengang brächte. Ihre Hand fuhr an der Wand entlang, zeichnete den Bettrand und die Stuhllehne nach – und nahm immer mehr Raum in Besitz, während Zarah nur das Fensterbrett blieb – und auch das vermutlich nicht mehr lange. »Bei uns ist es üblich, mit anzupacken und sich nützlich zu machen, wo es nur geht. In Zimmern verschanzen wir uns eher selten.«
Ja, diese Frau übersah man kaum, denn sie strahlte Selbstbewusstsein und Stärke aus, und ihr eng anliegender Angorapullover leuchtete löwenzahngelb. Der Ausschnitt entblößte ihr Schlüsselbein und den Ansatz ihrer Brüste. Die dunkelbraune Mähne floss an ihrem Rücken herab. Durch die Strähnen blitzten übertrieben große Silberohrringe. Den Blickfang stellte allerdings das Tattoo auf ihrer linken Gesichtshälfte dar: Flammen, denen die Schläfe entlang ein Tiger entsprang. Jede ihrer Regungen schien dem Bild Leben einzuhauchen.
Hinter ihr kam Alessa hervor, die im Vergleich zu der jungen Frau wie ein Schulmädchen aus den Jahrhunderten vor dem Ende der Welt wirkte. »Warte, sie ist noch nicht so weit. Lass ihr etwas Zeit. Du weißt doch, was sie und ich durchgemacht haben.«
»Für mich sieht sie fit genug aus. Was meinst du, Zarah? Hm? Ist es nicht langsam an der Zeit, das benutzte Geschirr selbst abzuwaschen, statt es andere für dich schrubben zu lassen?«
»Nun sei doch nicht so«, wandte Alessa ein. »Ich habe euch einander noch nicht einmal vorgestellt. Zarah, das ist Giulia. Ghosts rechte Hand, sozusagen.«
Die junge Frau presste die Lippen zusammen. »Nur ›sozusagen‹?« Ihre Stimme klang rauchig und dunkel und beinahe bedrohlich.
»Aber vielleicht kennst du sie eher unter ihrem Spitznamen«, fuhr Alessa fort. »Sie ist als das Waka-Waka-Mädchen bekannt.«
Zarah stand auf. Vor Verblüffung, ungläubig und nicht zuletzt aus Respekt. Es gab kaum einen Aufseher des Ordnungsamtes, der diesen Namen nicht hasste und im tiefsten Inneren nicht bewunderte. Das Verbot, ihn laut auszusprechen, war inzwischen sogar im Kodex verankert. Genauso wie die Wiedergabe des Slogans ›This time for freedom – We’re all people‹, der sich wie ein Lauffeuer unter den Menschen verbreitet hatte.
Sie stellte sich vor, wie Giulia vor das Hamburger Rathaus trat und mit einem aufsehenerregenden Hüfttanz und einem ansteckenden Lied den Beginn der Waka-Waka-Bewegung einläutete, die die Menschen zur Auflehnung gegen die Dämonenherrschaft animierte. Binnen kürzester Zeit war das Lied so tief in den Menschenherzen verwurzelt, dass nicht einmal die Sirenen es auszulöschen vermochten. Später hieß es, das Waka-Waka-Mädchen sei gefasst worden und warte in einem Hochsicherheitsüberwachungslager auf die öffentliche Hinrichtung. Öffentlich war diese jedoch nie geworden. Obwohl der Oberste Dämonenrat in einer offiziellen Mitteilung versicherte, dass die Delinquentin vorschriftsgemäß enthauptet wurde, glaubten
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