Tag der Entscheidung
blickte auf das Meer fragender Gesichter. »Ich könnte in diesen Hallen bleiben und als Regentin meines Sohnes wirken. Seine Herrschaft würde stabil sein durch ein Bündnis von Herrschern, die verstehen, was alle einmal begreifen müssen: daß das Kaiserreich unmittelbar vor einem Wandel steht. Die Cho-ja würden bereitwillig als Verbündete vermitteln, um eine neue Ordnung einzuführen, die ein Ende der jahrhundertealten Fehler bedeutet. Ihre Krieger werden die Streitereien zwischen den Edlen unterbinden und einen Bürgerkrieg abwenden. Denn Justins erste Handlung als zweiundneunzigster Kaiser wird ihre Befreiung von all den Einschränkungen sein, die ihnen von Menschen auferlegt wurden.«
Mara hielt inne und schöpfte Atem. Doch bevor die Herrscher genügend Zeit fanden, sie niederzuschreien, fuhr sie fort.
»Ich biete Euch einen friedlichen Wandel! Als Beraterin des verstorbenen Kaisers kenne ich die Arbeitsweise der kaiserlichen Regierung. Als Gute Dienerin des Kaiserreiches verweise ich darauf, daß nur ich die Macht und das nötige Ansehen bei den Herrschenden und der Bevölkerung besitze, um Aufstände zu ersticken. Die Alternative ist klar. Die Omechan haben bereits den Kampf gegen mich eröffnet, indem sie Kentosani belagern. Schon bald werden sich Verbündete des verstorbenen Lords Jiro mit ihnen zusammentun und auch andere Herrscher, die die Traditionalisten unterstützen. Läßt sich diese Entwicklung nicht aufhalten, haben wir einen unvergleichlichen Bürgerkrieg vor uns, der das Kaiserreich, dem wir angeblich dienen, ruinieren wird.«
Hochopepa hustete trocken. »Diese Begründung wurde schon häufig in der Vergangenheit vorgetragen, Mylady. Dennoch war meist Blutvergießen die Folge.«
Mara gestikulierte in unterdrückter Wut darüber, daß ihre Ideen, wenn auch nur indirekt, mit den Motiven ihrer machthungrigen vergangenen Feinde verglichen wurden. »Blutvergießen, sagt Ihr, Magier? Wozu? Es gibt keinen Posten für einen Kriegsherrn mehr, der errungen werden könnte. Der Hohe Rat ist abgeschafft!«
Viele Lords protestierten durch unruhiges Füßescharren und Gemurmel, doch wieder übertönte Mara sie. »Unsere Lust an mörderischen, politischen internen Machtkämpfen muß aufhören! Das Spiel des Rates darf nicht länger eine Rechtfertigung für Krieg und Attentate sein. Wir müssen unser Konzept der Ehre und unsere Traditionen neu beleben, die die Unterdrückung von Grausamkeiten befürworten. Wir werden ein Volk mit Gesetz und Recht sein! Welches Verbrechen auch immer, jeder Mann und jede Frau, von hohem oder niedrigem Stand, wird sich in gleicher Weise vor der kaiserlichen Justiz rechtfertigen müssen. Von diesem neuen Kodex des Anstands sind auch die Handlungen unseres Lichts des Himmels nicht ausgenommen!«
Motecha stieß eine Faust in die Luft. »Aber wir stehen außerhalb der Gesetze!«
Mara trat die Stufen hinunter und ging auf das Geländer zu, hinter dem die Erhabenen sich versammelt hatten. Ihr Blick richtete sich starr auf Motecha und schweifte dann über seine schwarzbemäntelten Kollegen um ihn herum. »Jeder Mann und jede Frau«, beharrte sie. »Keinem Herrscher, keiner Herrscherin gebührt Applaus für einen Mord, selbst wenn die traditionellen Formen gewahrt werden. Kein Bettler, kein Sklave und kein Kind von edler Geburt wird der rechtmäßigen Strafe für Verbrechen entgehen; Ihr von der Versammlung schon gar nicht. Eure Gruppe hat nicht länger die Freiheit, grauenhafte Geheimnisse für sich zu behalten: daß kleine Mädchen und Frauen getötet werden, in denen sich die Fähigkeiten zur Magie entwickeln.«
Gemurmel machte sich jetzt breit, da diese Anschuldigung laut genug war, daß sie von allen gehört wurde, und nicht nur Schwarzgewandete waren so erzürnt, daß sie unruhig von einem Fuß auf den anderen traten. »Ja!« schrie Mara über den anschwellenden Tumult hinweg, der sich unter den Lords und Höflingen ausbreitete. »Ich spreche die Wahrheit! Die Versammlung hat unzählige Jahre gemordet, und das aus Gründen, die unsere Götter niemals gutheißen würden!«
Der Priester Lashimas schwang seinen Amtstab und ließ die Corcara-Muscheln und Banner durch die Luft wehen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Hört auf die Lady. Sie lügt nicht. Im letzten Jahr wurde eine junge Frau, die als Akolythin getestet werden sollte, direkt aus dem Tempelhof verschleppt. Sie ist weder von unserer Priesterschaft noch von ihrer Familie gesehen worden, seit der Erhabene
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