Tag der Entscheidung
verschwand. Mit brennenden, tränenden Augen blickten die Zuschauer auf einen Kreis verkohlten Fußbodens und nahmen die Hitzewellen wahr, die von der schockartigen Aufheizung herrührten und die Luft zum Flimmern brachten. Innerhalb des Kreises, wo die magischen Kräfte mit ungeheurer Gewalt gewütet hatten, stand die Lady, ganz und gar unberührt. Ihre Gewänder waren fleckenlos; nicht eine Haarlocke war verrutscht. Die beiden Magier aus Chakaha verneigten sich huldigend vor dem Priester, der jetzt zittrig zu einer Dankes-und Lobesrede auf seinen Gott ansetzte.
»Was ist denn das?« brüllte Motecha. Er zitterte vor Wut am ganzen Körper und war leichenblaß bis unter die Haarwurzeln. »Sie lebt! Wie ist das möglich?«
Der Priester Turakamus beendete seine Hymne und trat geduldig lächelnd vor. »Erhabener, Ihr mögt für Euch beanspruchen, außerhalb der Gesetze der sterblichen Menschen zu stehen. Doch Ihr seid immer noch einer höheren Ordnung des Himmels verantwortlich.«
»Was …?« begann Mara schwach, und die Cho-ja-Magier stützten sie, als sie schwankte.
Der Priester des Roten Gottes kehrte den verblüfften Magiern den Rücken und wandte sich an Mara. »Lady Mara, Ihr habt einmal den Hohen Priester eines unserer Tempel in Sulan-Qu besucht. Er gab Euch einen Einblick in seine Fähigkeiten und erklärte, daß mein Gott niemals willkürlich handelt. Eure Politik belebt unsere Gesellschaft. Bei all Euren politischen Machenschaften habt Ihr niemals die Tempel verschmäht – Ihr wart immer eine ehrfürchtige Tochter unseres Glaubens, anders als jene, die laut ihre Loyalität für Traditionen herausschreien und geistige Rechtschaffenheit verschmähen.«
»Aber wie war das möglich?« setzte Mara erneut an, etwas stärker diesmal, als ihr verblüffter Verstand die Unmöglichkeit begriff, daß sie noch lebte.
Der Hohe Priester wurde feierlich. »Die Tempel unterstützen Euch. Unser Versprechen galt nicht nur in politischer Hinsicht. Wir waren übereingekommen, daß mein Gott, der den Tod aller Menschen in seinen Händen hält, bestimmen sollte, ob dies Euer Zeitpunkt war oder nicht. Hättet Ihr die Unterstützung des Himmels verloren, wärt Ihr jetzt tot.« Er drehte sich zu den Erhabenen; die Corcara-Knöchelchen klapperten leise. »Was sie nicht ist!«
Die kühle Stimme einer der Schwestern Sibis meldete sich: »Und wenn der kleine Bruder unserer Dunklen Lady sich entschieden hat, die Gute Dienerin nicht zu sich zu rufen, weigert sich unsere Göttin, sie in die Roten Hallen zu schicken.« Ihre düstere Robe bewegte sich, als sie begierig jede Seele im Raum begutachtete. »Es sind andere hier, die meine göttliche Herrin freudig zu sich nehmen würde.«
Selbst einige der Magier versuchten mit einem Handzeichen, das Böse abzuwehren. Unberührt, über ihr Verhalten sogar leicht amüsiert, verkündete der Hohe Priester Turakamus: »Mein Gott gewährte der Guten Dienerin seinen göttlichen Schutz. Ihr Leben ist sakrosankt, so lautet der Wille der Götter, und kein Mensch, Magier oder nicht, soll es wagen, ungestraft Hand an sie zu legen!«
Motecha akzeptierte die Niederlage vollkommen reglos; doch sein Gesichtsausdruck blieb unleserlich. »Es ist nicht an uns, das Leben der Lady zu nehmen; dies ist eindeutig bewiesen. Doch ihr Recht, als Regentin zu handeln, ist noch immer strittig. Lord Jiro von den Anasati besaß ebenfalls einen Anspruch auf den Goldenen Thron. Er hat genau wie Mara gehandelt, um unter allen Umständen die Macht zu erlangen. Sind die Ziele der Lady nicht die gleichen, wenn sie als Justins Regentin bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr herrscht? Warum übergeben wir das Amt nicht einem Omechan oder Xacateca – oder einem Angehörigen aus einem niedrigeren Haus ohne Anspruch auf das Amt des Kriegsherrn, vielleicht den Netoha oder Corandaro?«
Inzwischen hatte Mara sich von ihrer Beinahe-Begegnung mit dem Tod erholt und ihre Entschlossenheit wiedergefunden. Sie beeilte sich, den Traditionalisten die Möglichkeit zu nehmen, sich auszubreiten. »Nein. Ich biete Euch eine Wahl.«
Absolute Stille herrschte unter den Priestern und Höflingen, vom hohen Podest mit dem neugekrönten Licht des Himmels über die Gruppe der Magier auf dem großen Boden davor bis zu den Doppeltüren am Eingang, wo noch immer die beiden Herolde und reglose Kaiserliche Weiße Wache hielten. Alle warteten darauf, daß Mara einen nie dagewesenen Vorschlag machte. Sie schritt die Stufen zum Podest empor und
Weitere Kostenlose Bücher