Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
Vom Netzwerk:
Schaden repariert, und es kann in gewohnt forciertem Schritt weiter am Bild der Stadt gearbeitet werden. In der Neustadt findet regelmäßig das Fleetinselfest statt. Zu gehobener internationaler Gastronomie treten Künstler und Künstlerinnen aus allen Sparten der Kulturwelt auf. Vom Straßentheater mit faszinierenden akrobatischen Darbietungen bis zu Auftritten internationaler Popmusiker ist hier alles vertreten, was das breite Publikum anspricht. An einem Käsestand bricht ein Mann tot zusammen. Die anderen Gäste sind gereizt von seinem schlampigen Aussehen und treten ihn hastig unter den Wagen des Käseverkäufers. Die Leiche wird von Hunden abgeleckt. Die Frau des Toten hat das von einem anderen Stand aus mitbekommen, und als sie mit ihrem Essen fertig ist, nimmt sie eine heiße Gyrospfanne und schlägt sie den Gästen des Käsestands ins Gesicht. Eine Frau erleidet eine Schädelfraktur. Kinder werden von dem Fett verbrüht. Pilze und Fleischstücke spritzen durch die Gegend. Aus einem Radio klingt » Erbarmen, die Hesse komme « . Die Frau wird von den Gästen am Käsestand in einer großen Pilzterrine ertränkt. Gereizt essen die Umstehenden weiter. Durch umfangreiche spendenfinanzierte Bauarbeiten ist es gelungen, das Wahrzeichen der Stadt, den Michel, auf angemessene Weise zu restaurieren. Auch die Hamburger Speicherstadt wird umgebaut, hier entsteht eines der modernsten Innenstadtquartiere Europas. Die Elbphilharmonie soll zum neuen Wahrzeichen Hamburgs werden. Durch Lebensmittelvergiftung in der Außenverköstigung kommen jedes Jahr in Hamburg circa 13 000 Menschen ums Leben. Allein beim Anlanden der Queen Tosca werden durchschnittlich bis zu sieben Menschen zerquetscht. Hunderttausende verfolgen später das Auslaufen des großen Luxusliners, es herrscht ausgelassene Volksfeststimmung.
     
    Ich lehne mich zurück und studiere die Kolumne. Sind die Übergänge zu streng? Ist der Rhythmus zu holprig? Ist die Melodie zu anspruchsvoll? Ich werde Susanne das Urteil überlassen. Ich maile ihr das Ganze zu und hoffe, dass sie mir heute noch antwortet.
    Nach erfolgreicher Erledigung der Tagesarbeit gönne ich mir ein ausgedehntes Vollbad. Danach creme ich mich mit Malvenlotion ein und stelle mich vor
den Spiegel, um mich zu rasieren. Jung ist er nicht mehr, der mich dort ansieht, aber alt auch noch nicht. Irgendwo zwischen beiden Lagern im Niemandsland des Lebens. In der Zone des Vergessens. Langsam verändert sich mein Gesicht, ich bin nicht mehr der, der ich mal war. Der Mensch gleicht dem Lachs, zum Alter hin wird er hässlich, er sieht aus wie eine Übertreibung seiner selbst, die Gesichtszüge nehmen groteske Verwachsungen an. Dieser Prozess beginnt bei mir in Bälde, wenn sich zur Mitte des Lebens die Zellen nicht mehr teilen und regenerieren, wenn das Bindegewebe erschlafft und die Sehen sich dehnen, wenn die Gelenke porös werden, die Adern brüchig und das Gehirn den ersten Kalk ansetzt. Ich mag solche unfertigen Zustände nicht. Ich verachte das Warten auf das unvermeidliche Elend, dann bin ich lieber gleich am Ende. Ich betrachte meinen Oberkörper, meine Haut, noch straff, doch nicht mehr feinporig wie vor ein paar Jahren. Bin ich noch begehrenswert? Wenn sich die Begehrenswertigkeit eines Mannes an seinem sozialen Status und seinem Besitz misst, dann war ich es noch nie. Aber nun verliere ich auch noch meine Jugend. Ich betrachte mein Gesicht. Die leichten Tränensäcke, der stoppelige Bartwuchs, ein paar erste graue Haare haben sich in meinen braunen Haaransatz gemischt. Die meisten Gebrauchsspuren des Lebens weisen die Zähne auf.
    Während ich mich im Spiegel betrachte, ist mir, als würde etwas durch mich hindurchflimmern. Als ob ich da durch mich hindurch etwas hinter mir sehen könnte. Handtücher, Kacheln, einen Aufkleber auf den Kacheln. Dann sehe ich wieder meine Haut und die Farbe meiner Augen. Ich nähere mich dem Spiegel. Ich bin undurchdringlich, nur manchmal, für einen Sekundenbruchteil, weicht die Fassade wie ein Vorhang, wie ein Nebel, der verweht, ich sehe Blut, organische Substanz, Knochen und Haare. Und dann wieder die Dinge, die sich hinter mir befinden. Ich drehe mich um und stelle fest, dass die Dinge dort wirklich genau so zu sehen sind, wie ich sie eben im Spiegel wahrgenommen habe. Vielleicht ist es endlich so weit, und ich löse mich auf? Das wäre nicht das schlechteste Ende.
    Ich wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Nach einiger Zeit gelingt mir der Blick durch

Weitere Kostenlose Bücher