Tag der geschlossenen Tür
Essen.«
Ich fahre sie zurück, und beim Schieben des Rollstuhls fallen ein paar von meinen Tränen auf ihre Rollstuhllehne, während Oma sich schweigend ins Reich der Träume zurückgeleiten lässt.
Ich werde versuchen, niemals so schicksalsergeben zu sein. Lieber kämpfe ich bis zum letzten Augenblick gegen die Vorbestimmung an, um das Leben selbst in der Hand zu behalten. Auch wenn das mein Schicksal sein sollte.
Als ich das Haus Elisabeth verlasse, überlege ich, ob ich Großmutter von hier entführen soll. Ich könnte sie mit zu mir nehmen. Sie zu meiner neuen Mitbewohnerin machen. Durch meine Ansprache würde sie vielleicht wieder zum Leben erwachen. Aus der Vergangenheit, in die sie wie von einem Strudel gezogen wird, zurückbugsiert werden in die Gegenwart. Könnte ich sie aus den Fängen der Zeit befreien? Oder würde sie auch bei mir wegdämmern und irgendwann mit leerem Blick in den Raum starren? Was haben wir Menschen davon, wenn wir immer älter werden? All die Zeit, die wir der Natur durch mehr oder weniger unlautere Tricks abgegaunert haben, fesselt uns später an Rollstühle und Pflegebetten. Die Idee ist in sich falsch. Wir sollten diese geklaute Zeit nicht ans Ende hängen, sondern in den Anfang einbauen. Die geraubten zwanzig Jahre sollten in die Zeit zwischen zwanzig und vierzig implantiert werden. Und ab fünfzig gäbe es dann einen sauberen und rapiden Verfall mit einem unkomplizierten Tod ab sechzig, also eigentlich achtzig. Eine von vielen logischen und nützlichen Verbesserungsideen, die ich umsonst gehabt haben werde.
Ich kann Großmutter Anni nicht von hier mitnehmen. Ich kann sie nicht retten.
Das Leben trägt sie von mir fort
an einen unbekannten Ort.
Ein Spagat für die Ewigkeit
I ch denke an Nora. Ich durchforste mich nach meinen Gefühlen zu ihr. Vielleicht könnten wir es unter diesen Bedingungen schaffen, eine Beziehung zueinander aufzubauen. Immerhin beglückt sie mich sexuell absolut, sie besitzt ein ausgereiftes erotisches Talent. Wenn jetzt doch noch ein seelisches Band zwischen uns entstehen würde, könnte ich sie zu guter Allerletzt heiraten, so wie sie es immer gewollt hat. Schließlich spüre ich Interesse an ihr und auch an so etwas wie Wärme und Zärtlichkeit. Aber ich kann nicht sagen, dass ich in sie verliebt wäre. Ich kann nicht sagen, dass ich mich nach ihr sehnen würde. Außerdem beunruhigt mich ihre Infektion, denn was würde geschehen, wenn ich nicht infiziert wäre, würde sie mich dann anstecken? Ich sollte zum Arzt gehen. Ich habe ziemlich sicher mit niemandem ungeschützten Verkehr gehabt, und ich werde sicher niemanden anstecken. Ich will es eigentlich gar nicht wissen, was mit mir los ist. Und was würde es für mein Leben bedeuten, wenn ich krank wäre? Ich werde sowieso nicht lange an Deck bleiben, ob nun durch Aids, Gift oder Totschlag, meine Route hat ein vorzeitiges Ende, so viel meine ich ahnen zu dürfen. Nur um Noras Klarheit willen werde ich zum Arzt gehen. Außerdem hätte ich bei einem positiven Ergebnis eine lebenslange Ausrede und bräuchte nie wieder nach Entschuldigungen zu suchen, um nicht funktionieren zu müssen. Eine Lebensentschuldigung. Ein gelber Schein fürs Leben. Danach suche ich doch eigentlich seit Jahren. Es hätte allerdings den Nachteil, dass ich abhängig wäre. Dass ich anderen zur Last fallen würde. Was ich natürlich unbedingt vermeiden möchte. Ich möchte mit dem geringsten Aufwand an Tätigkeit unabhängig und frei denkend in Ruhe gelassen werden und in meiner Ecke vergammeln dürfen, vertrocknen wie eine Weintraube, die zu einer Rosine wird, ein Konzentrat reinen Geschmacks.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und lege die Schachtel mit Totelinchen vor mich hin. Ich klopfe an und öffne die Schachtel.
»Guten Morgen, Totelinchen, ich habe interessante Neuigkeiten.«
Es dauert eine Weile, ich höre eine Art Röcheln, dann ein ausgedehntes und anklagendes Hüsteln.
»Guten Morgen? Schön, dass sich der Herr nach Jahren auch mal wieder blicken lässt. Es ist ja gar nicht einsam und trist hier drinnen!«
»Totelinchen, ich habe frohe Neuigkeiten für dich.«
»Na, was denn schon? Raus damit. Hatte jemand eine Fehlgeburt? Oder was meinst du mit frohen Neuigkeiten?«
»Ich bin krank. Ich bin wahrscheinlich todkrank.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe Aids. Vermutlich.«
»Das ist aber mal eine nette Überraschung. Wenn das wirklich wahr ist.«
»Ich denke, ja.«
»Also, damit machst du mir
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