Tag der Vergeltung
Bezirksstaatsanwältin, würde sie ohnehin nichts unternehmen. Sie war ein braves, gehorsames Mädchen, das nicht gegen die Vorgesetzten rebellierte. So wie sie Rachel kannte, war es am besten, ihr eine prägnante Empfehlung vorzulegen, nachdem sie die Sachverhalte auf Herz und Nieren geprüft hatte.
Momentan sehnte sie sich nach ihrer Anfangszeit als Staatsanwältin zurück. Damals war für sie alles offenkundig, nachvollziehbar gewesen. Jeden Fall hatte sie mit dem Skalpell seziert. Die Antworten auf die Fragen hatten sich wie selbstverständlich ergeben. Seitdem waren zehn Jahre vergangen und in der Zeit hatte sie einiges gesehen. Sie war älter und reifer geworden und wusste inzwischen, dass nichts schwarz oder weiß war, dass es in ihrer Arbeit, wie im Leben selbst, jede Menge Graustufen gab.
Sie blickte sich in ihrem Büro um: ein winziger, mit Akten vollgestopfter Raum – was für ein Kabuff. Einige ihrer ehemaligen Kommilitoninnen waren in die großen Kanzleien gegangen, längst Teilhaberinnen und verdienten ein Vielfaches. Dennoch bereute sie es nicht, im öffentlichen Dienst geblieben zu sein. Sie mochte ihre Arbeit. Sie gab ihr das Gefühl, einen Auftrag zu erfüllen, etwas von Bedeutung zu tun. Ihre Eltern hatten sie so erzogen – nicht jede Sache beurteilte man danach, ob der Rubel rollte. Sie trat ans Fenster und blickte auf das Panorama der gräulichen Stadt. Für ein Büro mit Fenster hatte sie geraume Zeit ausharren müssen.
Wieder fiel ihr Blick auf die Akte auf ihrem Schreibtisch.
Rein juristisch, im Hinblick auf die trockene Beweislage, war die Schlussfolgerung eindeutig: Sie hatte nichts in der Hand. Nevos Geständnis war nicht viel wert. Und was die Wiedererkennung anging, brauchte man keine Worte zu verlieren. Wäre Assaf Rosen auch nur die Hälfte von dem bekannt, was dort abgelaufen war, wäre Nevo noch am selben Tag freigekommen.
Nach den Spielregeln müsste sie jetzt Rosen anrufen und ihm mitteilen, dass auf eine Anklageschrift verzichtet würde.
Nur lagen die Dinge nicht so einfach.
Kurz bevor Eli Nachum ihr Büro verließ, sagte er zu ihr, dass er an Nevos Schuld glaube, dass er trotz aller Fehlschläge, Mängel und juristischen Zweifel wusste, dass sie den richtigen Mann hatten.
Was sollte sie tun? Es ignorieren?
Jeder Jurastudent würde diese Frage ohne Zögern mit Ja beantworten. Die Entscheidung sei aufgrund der Beweise und objektiven Hinweise zu fällen, das Gespür der Polizisten spiele hier keine Rolle. Doch sie war schon recht lange in diesem Geschäft. Beweise waren nicht die Hauptsache, ab und an verzerrten sie die Realität sogar, dichteten ihr Lügen an, brachten sie durcheinander, und manchmal blieben sie dem Auge auch verborgen.
Immerhin hatte sich Nevo durch seine Aussage mit Adi Regev in Verbindung gebracht, er habe sie nicht gekannt, seine Wahl sei also zufällig auf sie gefallen, hatte er ausgesagt und sogar um Verzeihung gebeten. Darüber hinaus passte Nevos Aussehen auf Adi Regevs Täterbeschreibung unmittelbar nach der Vergewaltigung. Und sie stimmte Elis Vermutung zu: Regev hatte ihre Aussage nicht zurückgenommen, weil sie sich einbildete, den falschen Mann wiedererkannt zu haben. Sie war irritiert, hatte Angst, war außer sich wegen dieses Manövers, das sie hinter ihrem Rücken veranstaltet hatten.
Was sollte sie tun? Sämtliche Fragezeichen ausblenden? Einen Mann, der höchstwahrscheinlich der Täter war, freilassen, nur weil die Polizei bei der Ermittlung Fehler gemacht hatte? Und wenn er ein zweites Mal zuschlagen würde? Wie würde sie sich dann fühlen? Was waren diese ganzen Spielregeln wert, wenn sie mit den Fotos eines weiteren Opfers konfrontiert würde?
Sie wohnte nicht weit vom Tatort. Als sie die Akte mit den Fotos gesehen hatte, meinte sie, Adi Regev zu erkennen, sie im Viertel gesehen zu haben. Sie hatte noch gut das Polizeiaufgebot in Erinnerung, sie hatten die Straße an jenem Sonntagabend abgeriegelt. Die Anwohner hatten verängstigt geflüstert, und die Nachricht hatte sich in Windeseile verbreitet: ein brutaler Vergewaltiger in der Louis-Marshall, im Hof ihres Hauses. Der Täter war geflüchtet.
In letzter Zeit achtete sie darauf, ihr Haar nicht offen zu tragen, nicht zu spät nach Hause zu kommen, nicht die Straßen ohne Beleuchtung zu nehmen, das Pfefferspray griffbereit zu haben. Sie war sehr erleichtert gewesen, als sie erfahren hatte, dass der Täter gefasst worden war.
Sie schlug die Akte auf und begann zu blättern. Nachum
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