Tag der Vergeltung
war der Meinung, der Fall sei noch zu retten. Er hatte vorgeschlagen, dass sie mit Adi Regev redete, sie würde sie umstimmen können. Da sie in die bisherigen Geschehnisse nicht verwickelt war, nicht zur Polizei gehörte, wäre sie vielleicht erfolgreich, wo er gescheitert war.
Vielleicht hatte er recht, vielleicht aber auch nicht. In jedem Fall hatte er auf ihrem Schreibtisch eine Zeitbombe platziert, und sie sollte sie entschärfen. Scheinbar hatte sie die Wahl. Sie konnte über die nächsten Schritte, über die weitere Entwicklung entscheiden. Doch worin bestand ihre Wahl? Gleich was sie unternehmen würde, es käme nichts Gutes dabei heraus, und der Zoll war hoch.
19
Ziv Nevo begriff sofort, dass etwas passiert war. Rosen hatte nicht so ein breites Lächeln aufgesetzt, weil er sich auf ihre Begegnung freute. Bei ihrer letzten Unterredung war er beängstigend ernst gewesen und hatte nicht ein Mal geschmunzelt.
Diesmal war es Ziv, der nicht lächelte. Der Schlagabtausch mit Me’ir war noch frisch und lag ihm wie Blei im Magen. Sie hatten ihm, hatten Gili die Pistole an den Kopf gesetzt, ihm blieb nichts anderes übrig.
»Die Anwältin der Staatsanwaltschaft hat mich auf dem Weg hierher angerufen. Sie will sich dringend mit mir unterhalten, um über Ihren Fall zu verhandeln«, sagte Rosen mit Genugtuung.
Ziv verstand immer noch nicht, was es mit dem plötzlichen Optimismus auf sich hatte. Letzte Nacht hatte er kein Auge zugemacht. Immer wieder hatte er sich auf dem engen eisernen Bett mit der dünnen grünen Matratze und den Fettflecken hin- und hergewälzt. Ab und zu hatte er registriert, dass Me’ir ihn anstarrte, ihn keine Minute aus den Augen ließ.
»Meiner Meinung nach haben die bei dem Fall ein ernsthaftes Problem«, erläuterte Rosen. »In dieser Phase, noch vor dem Einreichen der Anklageschrift, lassen sie normalerweise kein Wort darüber fallen. Schon gar nicht eine wie Galith Lavi. Wenn die ›Strafmaß aushandeln‹ hört, bekommt sie Ohrensausen, die zieht ihre Fälle bis zum Ende durch.«
Er starrte seinen Anwalt an, der fröhlich drauflosplapperte, Taktiken entwickelte, Schritte analysierte. Er wusste, all das war überflüssig, in seiner Angelegenheit waren die Würfel gefallen.
Ihm fiel eine Sendung ein, die er vor einigen Jahren im Fernsehen gesehen hatte: Ein amerikanischer Berichterstatter, der lange Zeit in Garderobe und Maske verbracht haben musste, interviewte einen jungen Obdachlosen, der schilderte, wie er in seinem Leben auf der untersten Stufe angekommen war. Wie aus einem verheirateten Mann, Vater zweier Kinder mit sicherem Arbeitsplatz infolge einer Kette von Ereignissen und Fehlern, die er begangen hatte, einer geworden war, der auf der Straße lebte. Damals hatte er vermutet, dass der Mann etwas verheimlichte, ein großes Unglück, ein Vergehen, denn so heftig konnte man nicht abrutschen, solche Dinge passierten einem nicht.
Heute würde er mit ihm tauschen.
Könnte er die Zeit zurückdrehen, täte er es bis zu jenem Dienstag. Damals war Gili ungefähr zweieinhalb, er und Merav waren vier Jahre verheiratet, und er war alles in allem zufrieden mit seinem Leben. Er liebte Frau und Sohn, und die Arbeit als Vertriebsleiter in einer Firma für Bewässerungstechnik machte ihm Spaß. Diese Arbeit wäre nur vorübergehend, um das teure Wirtschaftsstudium an der Hochschule zu finanzieren, dachte er bei der Einstellung. Er verfolgte ehrgeizigere Pläne, als Bewässerungsanlagen zu verkaufen. Zu seiner Verblüffung machte ihm die Arbeit jedoch Spaß, er eignete sich jede Menge Fachwissen an und hatte nichts gegen Überstunden. Er mochte den sozialen Kontakt und die innere Befriedigung, wenn er ein Geschäft abgeschlossen hatte. Auch in der Firma waren sie mit ihm zufrieden. Die Kunden suchten seinen Kontakt, lobten ihn für die großzügige, fachliche Betreuung, seine Liebenswürdigkeit. Als der ältere Verkaufsleiter in den Ruhestand ging, hatte ihm Dovi, der Generaldirektor, angetragen, dessen Posten zu übernehmen.
* * *
In jener Woche war nichts passiert, das aus dem Rahmen gefallen wäre. Gili war krank geworden und konnte nachts nicht schlafen, und wie immer, wenn mit Gili etwas nicht in bester Ordnung war, kam es zu Spannungen zwischen Merav und ihm und sie stritten. Gilis Geburt hatte ihm ein bis dahin nie gekanntes Glück beschert. Zwar spürte er, wie er zwischen seinen häuslichen Verpflichtungen und denen auf der Arbeit zerrieben wurde, doch er beklagte sich nicht.
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