Tag der Vergeltung
zuzuhören und würde einfach anweisen, ihn zu erschießen.
Sein Handy klingelte.
»Ich habe mit ihnen geredet«, hörte er Noam, »stell dich an die Auffahrt beim Kreuz Ayalon-Nord. In zwei Stunden wird dich dort jemand abholen.«
39
Eli Nachum setzte einen Fuß vor den anderen, zuckte bei jedem Schritt vor Schmerz zusammen. Der Arzt hatte ihm Bettruhe verordnet, er solle nicht auftreten. Er hatte genickt und Leah versichert, alle Anweisungen strikt zu befolgen. Kaum hatte sie das Krankenhaus verlassen, war er schon aus dem Bett, stützte sich auf seine Krücken und machte sich daran, den wachsamen Augen der Krankenschwestern zu entkommen. Das Wissen, dass sie hier war, nur zwei Stockwerke über ihm, ließ ihm keine Ruhe.
Seit er auf der Station war, hatte er unzählige Male gehört, was für ein Glück er gehabt habe, seine Verletzungen seien, angesichts dessen, was er durchgemacht haben musste, keine schwerwiegenden. Er hatte jedoch am gesamten Körper Schmerzen, vor allem im linken Knie und in den Rippen. Nur eine schnelle oder unachtsame Bewegung und er spürte, wie die gebrochenen Rippen aneinander rieben.
Während er sich auf wackeligen Beinen die leeren Gänge entlangschob, keuchte, hin und wieder stehenblieb, um sich an die Wand zu lehnen, hoffte er, dass er sie dort antreffen würde, damit diese Tour, für die ein gesunder Mensch fünf Minuten, er hingegen eine halbe Stunde brauchte, nicht umsonst wäre.
Erst als er ihn im Warteraum sitzen und auf den Fernsehbildschirm vor ihm starren sah, atmete er in dem Maße auf, wie seine gebrochenen Rippen es ihm erlaubten. Er erkannte ihn sofort. Die Ähnlichkeit zwischen Dana Aronov und ihrem Vater Michael stach regelrecht ins Auge.
* * *
Den ganzen Tag über war der Besucherstrom an Elis Krankenbett nicht abgerissen. Alle hatten wissen wollen, was passiert war, doch er hatte geschwiegen. Selbst als er mit seiner Frau allein gewesen war und sie ihm Druck machte, war er nicht mit der Sprache herausgerückt. Vorläufig wollte er die Sache für sich behalten. Da das Krankenhaus den Fall angezeigt hatte, war er vernommen worden, doch er hatte sich geweigert, Strafantrag zu stellen.
Hatte er sich richtig verhalten? Gäbe er Sarah Glasers Information zur Tätowierung des Täters an die Polizei weiter sowie dass Ziv Nevo keine auf dem Arm hatte, stände Nevo möglicherweise nicht länger unter Verdacht. Und noch wichtiger: Sämtliche Ermittlungsmaßnahmen, die sich derzeit auf die Suche nach dem falschen Mann konzentrierten, würden höchstwahrscheinlich auf die Ergreifung des eigentlichen Vergewaltigers gerichtet.
Im Laufe des Tages hatte er immer wieder mit sich gehadert, ob er Ohad anrufen solle. Doch er war einfach zu viele Jahre dabei, um nicht zu wissen, dass es sinnlos wäre. Gegenwärtig herrschte die Überzeugung, dass Nevo der Vergewaltiger war, und in dieser Überzeugung waren sie gefangen. Sie vertrug sich mit der Ähnlichkeit der beiden Vergewaltigungsfälle und der Tatsache, dass Nevo bereits verurteilt worden und seiner rechtmäßigen Strafe nur wegen Komplikationen bei den Ermittlungen entgangen war. Zuzugeben, dass Nevo nicht der Täter war, würde bedeuten, dass sie sich bisher geirrt hatten und ein Unschuldiger verurteilt worden war.
In dieser Hinsicht warf er ihnen nichts vor. Er war erst jetzt, da er vom Dienst suspendiert und frei war, zu einer anderen Schlussfolgerung gelangt. Was nicht hieß, dass er auch in Uniform darauf gekommen wäre. Da hatte er andere Überlegungen angestellt, eine andere Wahrnehmung gehabt. Es war bequemer, in den allgemeinen Konsens einzustimmen, im Strom zu schwimmen, als sich zu distanzieren und etwas in Zweifel zu ziehen. Jemand sagte etwas, ein Zweiter schloss sich ihm an und ein Dritter und Vierter stimmten in den Chor ein, der daraufhin in vollendeter Harmonie erklang. Auch wenn er anders dachte und sich durchringen würde, es zu äußern – wer hörte dem Fünften zu?
Würde er ihnen die Informationen liefern, wären sie nicht nur misstrauisch, sie würden sie sogar bestreiten. Garantiert würden sie sich mit dem Nebensächlichen befassen: Wieso ermittelte er auf einmal eigenständig? Wie kam es, dass er Ziv Nevo begegnet war? Wieso hatte er ihn entkommen lassen?
* * *
Er ließ sich im Warteraum auf einem Stuhl nieder. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn in der Seite, und obwohl er es sich verkneifen wollte, stöhnte er auf. Michael Aronov taxierte ihn argwöhnisch. Im Warteraum hielten sich bloß
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