Tag des Opritschniks, Der
einen tiefen Groll hegt – nicht nur auf uns, die Opritschniki, nein, ebenso auf den Gossudaren. Und diesem Menschen ist nicht mehr zu helfen. Dabei hat er einen Sohn großzuziehen, und wahrscheinlich haben Stein und sie donnerstags einen Salon, wo die Orenburger Intelligenzija zusammenkommt. Da singen sie Romanzen, trinken Tee mit Kirschkonfitüre, und anschließend führen sie Gespräche. Und man muss nicht Praskowja, die Wahrsagerin, sein, um zu ahnen, worum – und um wen – diese Gespräche sich drehen …
Solche Leute gibt es – nach allem , was war – zu Hunderttausenden. Rechnet man Kinder und Ehegatten mit ein, sind es Millionen. Das ist keine gering zu veranschlagende Kraft, man muss ihr Rechnung tragen.Auch hier lohnt es vorauszudenken, Züge des Gegners abzusehen. Und dass man diese Leute aus ihrer vertrauten hauptstädtischen Umgebung ausgesiedelt und nach Orenburg oder Krasnodar gescheucht hat, ist kein Ausweg, keine Lösung. Kurz: Die Gnade unseres Gossudaren ist groß. Aber das ist wohl gut so …
Am Ende gelingt es mir doch noch, ein Weilchen zu schlummern.
Im Traum habe ich etwas flüchtig auftauchen und wieder entwischen sehen. Das weiße Pferd war es nicht – es war viel kleiner, krümelig und traurig.
Ich schrecke hoch, als die Landung angekündigt wird. Aus dem Augenwinkel schaue ich hinüber auf die Blase mit dem historischen Film: Der läuft auf seine Entscheidung zu, das Verhör in der Geheimen Kanzlei, auf der Streckbank, die glühenden Eisen und das wutverzerrte Gesicht des Ministers:
»Ich hasse euch … Wie ich euch hasse!«
Darauf das Finale, die Schlussszene: wie der Gossudar, noch ein junger Mann, vor dem Hintergrund seiner vom Licht der aufgehenden Sonne überfluteten heimatlichen Landschaft stehend, den Ziegelstein – den ersten! – in der Hand hält und, gen Westen blickend, die geheiligten Worte spricht:
»Die Große Russische Mauer!«
Wir landen.
Potrocha holt mich ab, ein junger Mann mit Stupsnase, roten Wangen und etwas zu viel Goldpuder im Schopf. Ich steige in seinen Merin, und wie immer kommt es mir vor, als wäre es mein eigener. Déjà vu.Alle Opritschniki fahren die gleichen Wagen, in Moskau wie in Orenburg oder Oimjakon: 400-PS-Limousinen der gewissen Marke in kräftigem Tomatenrot.
»Grüß dich, Potrocha.«
»Grüß dich, Komjaga.«
Wir duzen uns alle, die Opritschnina ist eine große Familie. Auch wenn ich anderthalbmal so alt bin wie Potrocha.
»Wieso tut ihr euch so schwer beim Mäusefangen? Kaum ist Tschapysch mal weg, läuft bei euch alles quer.«
»Mach halblang, Komjaga. Die Sache ist link. Sie haben einen Haken in der Kanzlei sitzen. Und Tschapysch stand sich mit der Kanzlei bis vor kurzem extrem gut. Ich bin für sie ein Niemand. Da muss eine Schulter her.«
»Aber eine linke. Ich bin von der rechten!«
»Das tut jetzt nichts zur Sache, Komjaga. Hauptsache, du hast das Siegel. Im Streitfall braucht es einen Opritschnik mit Vollmachten.«
Das muss er mir nicht sagen. Ein Opritschnik mit Vollmachten hat das Siegel. Exakt zwölf Opritschniki gibt es, die das Siegel haben. Es steckt im linken Handteller, unter der Haut. Um es mir zu nehmen, muss man mir die Hand abhacken.
»Hast du den Sekretär bestellt?«
»Aber sicher! In fünfzehn Minuten beginnt die Klärung des Sachverhalts.«
»Ärzte?«
»Alles top.«
»Na dann mal los.«
Potrocha manövriert verwegen, ist im Nu durch das Flughafentor und auf dem Trakt, wo er richtig Gas gibt. Wir düsen davon – nicht nach Orenburg hinein,berühmt für seine gehäkelten Schals und mandeläugigen russisch-chinesischen Schönheiten, sondern in die Gegenrichtung. Unterwegs setzt Potrocha mir den Fall bis ins Kleinste auseinander. Lang, lang ist es her, dass ich beim Zoll war! In dieser Zeit hat sich viel Neues getan. Manches davon hätten wir uns damals nicht vorstellen können. Zum Beispiel gibt es inzwischen gläserne Schwarzarbeiter. Ein geheimnisvoller Export von Leerräumen hat sich etabliert. Zurzeit steht in Sibirien subtropische Luft hoch im Kurs, wird in Größenordnungen abgesetzt. Ebenso irgendwelche Boxen mit eingerollten Wünschen aus dem Reich der Mitte. Rätselhaft! Zum Glück ist, was wir heute zu erledigen haben, von simplerer Art.
In einer Viertelstunde ist Potrocha an der Trasse. Hier war ich bestimmt schon drei Jahre nicht mehr. Und jedes Mal, wenn ich sie zu Gesicht bekomme, stockt mir aufs Neue der Atem. Diese Trasse ist ein gewaltiges Ding! Sie nimmt in
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