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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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bei Eddie, bis die Ambulanz ihn wegbrachte. Helena kam aus dem Büro, sagte, ich sähe schrecklich aus, und bemitleidete mich, als wäre Eddie mein Vater gewesen. Ich sagte ihr, ich schämte mich, weil ich in dem Moment, in dem Eddie außer Sicht war, daran gedacht hatte, mich um seine Stelle zu bewerben. Ich sagte, das könnte ich doch machen, oder? Ich hätte einen College-Abschluß. Sie meinte, der Chef würde mir den Posten auf der Stelle geben. Er wäre stolz darauf, sagen zu können, daß Port Warehouses den einzigen akademisch gebildeten Kontrolleur und Rampenchef im ganzen Hafen hätte. Sie sagte, setz dich schon mal an Eddies Schreibtisch, um dich daran zu gewöhnen, und schreib dem Boß einen Zettel, daß du an dem Job interessiert bist.
    Eddies Klemmbrett lag auf dem Tisch, mit dem Lieferschein von Fat Dominic. Ein Rotstift war mit Bindfaden an der Klemme befestigt. Eine hohe Tasse halb voll mit schwarzem Kaffee stand auf dem Schreibtisch. Seitlich auf der Tasse stand EDDIE. Ich dachte, so eine Tasse müßte ich mir auch zulegen, mit dem Aufdruck FRANK. Helena wußte sicher, wo es die zu kaufen gab. Es war ein tröstlicher Gedanke, daß sie da sein würde, um mir zu helfen. Sie fragte, worauf wartest du noch? Schreib schon. Ich schaute noch einmal auf Eddies Kaffeetasse. Ich schaute auf die Rampe hinaus, wo er zusammengebrochen und gestorben war, und brachte es nicht über mich, die Notiz zu schreiben. Helena meinte, das sei die Chance meines Lebens. Ich würde hundert Dollar die Woche verdienen, Himmel noch mal, statt der mickrigen siebenundsiebzig, die ich jetzt bekam.

    Nein, ich konnte nie und nimmer Eddies Platz auf der Rampe einnehmen, ich hatte weder vom Bauch noch vom Herzen her sein Format. Helena sagte, okay, okay, du hast ja recht. Was nützt eine College-Ausbildung, wenn man bloß auf der Rampe stehen und Säcke mit Pfefferschoten abhaken muß? Das schafft jeder Schulabbrecher, womit ich Eddie nicht beleidigen will. Du willst der neue Eddie sein? Dein Leben lang Ladungen mit Fat Dominic abgleichen? Du mußt einfach Lehrer werden, Süßer. Dann bist du wer.
    Lag es an der Kaffeetasse und dem kleinen Schubs von Helena, daß ich dem Hafen ade sagte, oder war es mein Gewissen, das mir sagte, stell dich, hör auf mit dem Versteckspiel und unterrichte, Mann?
    Wenn ich Geschichten von den Kais erzählte, sahen mich die Schüler mit anderen Augen an. Einer sagte, es sei schon komisch, daß man da oben einen Lehrer sitzen hat, der mal wie jeder normale Mensch gearbeitet hat und nicht direkt vom College kommt und bloß über Bücher und so Zeug redet. Er hätte früher gedacht, die Arbeit im Hafen könnte ihm auch gefallen, wegen dem vielen Geld, das man mit Überstunden macht, und kleinen Geschäften hier und da mit zu Bruch gegangenen Sachen, aber sein Vater habe gesagt, er versohlt ihm den Arsch, ha, ha, und in einer italienischen Familie ist es nicht üblich, seinem Vater zu widersprechen. Wenn dieser Ire es schafft, Lehrer zu werden, habe sein Vater gesagt, dann schaffst du das auch, Ronnie, dann schaffst du das auch. Also vergiß die Kais. Schon möglich, daß du gut verdienen würdest, aber was nützt dir das, wenn du einen krummen Rücken davon kriegst?

5
    L ange nach dem Ende meiner Lehrerlaufbahn kritzle ich Zahlen auf Papierfetzen, und das Ergebnis beeindruckt mich. In New York habe ich an fünf verschiedenen High Schools und an einem College unterrichtet: McKee Vocational and Technical High School in Staten Island, High School of Fashion Industries in Manhattan, Seward Park High School in Manhattan, Stuyvesant High School in Manhattan, Abendkurse an der Washington Irbing High School in Manhattan, New York Community College in Brooklyn. Ich habe tagsüber, abends und in Sommerschulen unterrichtet. Meine Rechnerei ergibt, daß ungefähr zwölftausend Jungen und Mädchen, Männer und Frauen vor mir gesessen und zugehört haben, wie ich dozierte, skandierte, zuredete, faselte, sang, deklamierte, rezitierte, predigte und verstummte. Ich denke an die zwölftausend und frage mich, was ich für sie getan habe. Dann denke ich daran, was sie für mich getan haben.
    Meine Rechnerei ergibt, daß ich mindestens dreiunddreißigtausend Stunden gehalten habe.
    Dreiunddreißigtausend Unterrichtsstunden in dreißig Jahren: Tag und Nacht und auch im Sommer.
    An der Universität kann man immer von demselben vergilbten alten Skript ablesen. An einer öffentlichen High School würde man damit nie durchkommen.

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