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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Badewannenrand setzen und unsere Hände zur Inspektion ausstrecken. Meine Mam war eine dieser Mütter, die besser einer Arbeit hätte nachgehen sollen. Einer bezahlten Arbeit, meine ich damit. Sie war so intelligent und so durchsetzungsfähig und so an der Welt interessiert, die sich um sie herum drehte, ohne ihr, die sich abmühte, vier Kinder großzuziehen, Beachtung zu schenken. Hätte sie neben uns und Vater und dem Haus und den beiden Katzen, drei Goldfischen und dem Kaninchen noch etwas anderes gehabt, hätte sie es mit uns vielleicht nicht so ernst genommen. Wir waren ihr persönliches Projekt. Jeder wahrgenommene Fehlschlag unsererseits war ihr eigener tief empfundener Fehlschlag. Sie badete sich in unseren Erfolgen, aber wenn man wie ich nur Durchschnitt ist, gab es selten welche, und wenn, dann nur kleine.
    Ich ging zum oberen Badezimmer, wo das Licht meinem Spiegelbild gegenüber milder gesonnen war. Die Tür zu Patricks Zimmer stand offen, das Licht war an. Das war ungewöhnlich. Sonst war die Tür immer fest verschlossen. Eine lange Reihe von Säcken stand dicht gedrängt im Inneren des Zimmers, sie waren oben zugebunden. Unter meinem Gewicht ächzte eine Diele. Über das Geräusch des Dunstabzugs hinweg konnte ich in der Küche meine
Mutter summen hören. Die Uhr in der Diele tickte laut, und ich stand da. Als ich die Tür weiter aufstieß, knarrte sie schrecklich. Ich trat nicht ein, aber ich sah hinein. Die Nacktheit des Raums war ein Schock für mich, der Anblick traf mich wie ein Schlag. Die Regale ohne Bücher. Die Wände mit dunklen blauen Quadraten, wo vorher Poster von Yeats und Beckett und Jim Morrison gehangen und die Wandfarbe vor den Sonnenstrahlen geschützt hatten. Die Kleiderschranktür stand offen, und die Bügel, die jetzt leer waren, klirrten bei jedem Luftzug wie Weingläser. Das Bett war bis auf die Matratze abgezogen. Am Kopfende lag zusammengesackt das hüllenlose Kissen. Aber ich ging nicht hinein. Ich ging nie hinein.
    »Graaaaa-ce!« Mam rief erneut nach mir, und ich ging, die Hand fest am Geländer, die Treppe hinab. Ich schaffte es hinunter, ohne auszugleiten.
    »Räumst du aus?«, fragte ich. Meine Stimme klang so normal.
    »Oh, du meinst oben? Ja, ich denke, es ist an der Zeit, findest du nicht?«
    Sie öffnete die Backofentür, und plötzlich umgab mich ein Schwall heißer Luft. Ich fand einen Korkenzieher, drückte ihn in den porösen Korken der Weinflasche, schenkte mir ein Glas ein und nahm einen kräftigen Schluck.
    »Grace, du fährst mit dem Auto nach Hause, vergiss das nicht.« Sie stellte eine Schüssel mit knusprigen, honigfarbenen Bratkartoffeln vor mich hin, und ich legte meine Hände darum und wärmte mich an ihr. Dann brach ich eine Kartoffel wie ein hartgekochtes Ei auseinander und schob mir ein Stückchen davon mitsamt der geschmolzenen Butter, die sich wie eine Pfütze aus Gold auf der Oberfläche sammelte, auf die Zunge. Welch ein Trost. Ich spürte förmlich, wie davon meine Hüften runder wurden, aber es
interessierte mich nicht. Erst als ich mich hinsetzte, merkte ich, wie meine Beine zitterten. Mam ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches nieder.
    »Was hast du mit den schwarzen Säcken vor?«
    Sie schaute mich nicht an, sondern deutete auf ihren Mund und kaute bedächtig. Ich nahm noch einige Schlucke Wein und wartete. Als sie fertig war, trank sie aus einem großen Glas Wasser. Es dauerte ewig.
    »Wahrscheinlich gebe ich sie an eine wohltätige Einrichtung. Vielleicht Oxfam. Oder die Vinzenzgemeinschaft.« Sie tupfte sich die Mundwinkel mit ihrer Leinenserviette ab und senkte ihren Kopf wieder zum Teller.
    »Aber was ist mit den Büchern? Und den Postern?« Ich legte Messer und Gabel beiseite und beugte mich nach vorne, um sie zu zwingen, mich anzusehen. Sie konnte es noch immer nicht. Selbst nach all der Zeit. Sie konnte sein Zimmer ausräumen, aber sie konnte mich nicht ansehen.
    »Das habe ich noch nicht entschieden, Grace. Jetzt iss dein Abendessen auf, es wird kalt.«
    In der folgenden Stille hörte man nur das Aufsetzen von Messer und Gabel. Es war eine Erleichterung, als Mam den kleinen Fernseher anschaltete und wir Coronation Street ansahen. Jetzt wirkte die Stille geselliger, die Küche war warm, und wir aßen unsere Teller leer.
    »Hat dir Clare gesagt, dass ich einen Bekannten zur Hochzeit mitbringe?«
    »Einen Bekannten?« Ich war nicht bereit, ihr entgegenzukommen, nicht nach den schwarzen Säcken. »Einen Freund?«
    »Ich

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