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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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bin viel zu alt, um einen Freund zu haben.« Als hätte ich vorgeschlagen, sie solle mit den Nachbarn von nebenan einen flotten Dreier haben! »Er ist ein netter Mann. Du wirst ihn mögen.«

    »Wie heißt er?« Ich schaffte es, das zu fragen, ohne dabei zu kichern.
    »John«, sagte sie. Den Rest behielt sie für sich. »Ich habe ihn bei einem Abendkurs kennengelernt. Er ist ein guter, anständiger Mann.«
    »Gut. Freut mich für dich. Es war an der Zeit, dass du ein bisschen mehr ausgehst«, sagte ich und meinte es auch so.
    »Vielleicht lernst du ja auch einen netten Kerl kennen.« Mam schenkte sich Tee ein.
    »Falls du dich erinnerst, ich habe einen netten Kerl.«
    »Shane?«
    »Ja.«
    »Ach, läuft das noch immer zwischen euch?«
    »Ja, natürlich. Er hatte nur sehr viel zu tun. Mit seiner Arbeit und allem.« Es hatte den Anschein, als würde ich das in letzter Zeit ziemlich oft sagen. »Er kommt dieses Wochenende her, um mich zu sehen.«
    »Oh, das ist nett. Du kannst ihn am Samstag mit zum Abendessen bringen.«
    »Abendessen?«
    »Ja, erinnerst du dich nicht?«
    Ich erinnerte mich nicht. Und Shane würde nicht erfreut sein. Er meinte, er fühle sich jetzt unbehaglich bei uns im Haus.
    »Oh ja, natürlich.« Ich konnte noch immer in letzter Sekunde eine Entschuldigung für Shane erfinden. Vielleicht würde er dieses Mal ja auch mitkommen. Ich wechselte das Thema.
    »Kommt, äh … John auch am Samstag? Es wäre nett, ihn kennenzulernen.«
    »Ja, er kommt auch. Es ist wirklich keine große Sache. Er ist einfach ein bisschen Gesellschaft für mich, das ist alles.
« Sie klang kurzatmig. »Er hilft mir. Er ist eine große Hilfe. Weißt du, mit dem Haus und alldem.«
    »Beim Ausräumen des Hauses«, sagte ich plötzlich. Das war keine Absicht gewesen, es war mir so rausgerutscht, und ich wünschte, ich hätte es nicht gesagt.
    Jetzt sah sie mich an, sah mir direkt in die Augen, als wären wir zwei Frauen und nicht Mutter und Tochter. Die Küche war so still, dass ich meine eigenen Atemzüge hören konnte. Mams Brust hob und senkte sich, als würde sie rennen. Mir war klar, dass gleich etwas geschehen würde, etwas Schreckliches.
    Sie begann zu weinen. Ich wich zurück, als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen. Meine Mutter weinte nie. Sie weinte nicht bei der Beerdigung meines Vaters, sie weinte nicht, als Jane heiratete oder ihre Kinder bekam. Sie weinte nicht, als die Mutter meines Vaters, die sie anbetete, nach langer Krankheit starb. Sie lächelte tapfer und sagte, dass es so das Beste sei: eine Erlösung für sie. Hatte sie vergangenes Jahr geweint? Ich konnte mich nicht erinnern.
    Jetzt saß sie mir gegenüber und weinte. Ihr Gesicht war gerötet und durch den angestrengten Versuch aufzuhören ganz verzerrt. In den Falten ihres Gesichts sammelten sich Tränen. Sie liefen über Nase, Oberlippe, Kinn. Irgendwie wirkte Mam ganz klein. Ich hatte Angst. Die Uhr baumelte an ihrem schmalen Handgelenk, und mit Schrecken erkannte ich, dass sie im vergangenen Jahr gealtert war. Ihre Haare, seit Jahren grau, waren nun von weißen Fäden durchzogen und schienen dünner als zuvor. Durch das schüttere Haar sah ich an manchen Stellen ihre rosafarbene Kopfhaut.
    Ich reichte Mam ein Taschentuch, und sie sah mich durch die Tränen hindurch mit einem wässrigen Lächeln an. Verzweifelt suchte ich nach Worten.

    »Mam, das mit John ist echt toll. Wirklich. Ich meine das so. Aber denke daran, dass du immer noch uns hast.« Ich wünschte mir, sie würde aufhören zu weinen. Noch nie hatte ich mir etwas mehr gewünscht. Sie schnäuzte sich die Nase und schüttelte sich. Schließlich richtete sie sich auf, als hätte sie jemand an Fäden nach oben gezogen.
    »Ihr habt alle euer eigenes Leben, und darüber bin ich froh, versteh mich nicht falsch. Aber ich habe auch Anspruch auf eines. Ich habe euch lang genug den Hintern geputzt und um vier Uhr morgens gefüttert.«
    Wir befanden uns wieder auf vertrautem Terrain. Die Hinternputz- und Nachtfütterungsgeschichten hatte ich schon viele Male gehört.
    »Mam, ich sagte, dass ich froh über das alles bin.« Es war, als hätte ich überhaupt nichts gesagt.
    »John ist ein Freund, das ist alles«, zischte sie. »Ich brauchte etwas Gesellschaft, und er war da für mich.« Diese unausgesprochene Beschuldigung, dass ich nicht für sie da gewesen sei, konnten mittlerweile schon die Spatzen von den Dächern singen. Für eine Weile herrschte Schweigen, wir gaben beide vor, mit dem

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