Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
internationaler Aufsicht zu organisieren? Das ist die Frage. Aber das ist etwas, was die Leute hier draußen im Moment nicht beschäftigt – sie freuen sich, 30 Jahre Mubarak sind vorbei. Man muss sich das vorstellen: Vor 30 Jahren saß noch Bruno Kreisky im Kanzleramt. Die meisten Leute hier haben nie irgendeinen anderen Präsidenten gekannt als Hosni Mubarak und jetzt gerade, in dieser Minute, kommt die Nachricht, dass Mubarak abgedankt hat, dass Mubarak alle seine Ämter abgibt, und da draußen tobt die Straße.
ORF: Wir sehen auch immer wieder die Bilder vom Tahrir-Platz, Karim El-Gawhary, wir bekommen die Bilder immer wieder eingespielt, Bilder auch aus anderen wichtigen Städten, aus anderen wichtigen Stadteilen Kairos. Können Sie kurz schildern – außer dass die Menschen Fahnen schwingen –, was da bei Ihnen passiert? Sie selber sind ja auch Teil der ägyptischen Gesellschaft. Wie ist die Stimmung?
Karim El-Gawhary: Ich glaube, es hat schon in den letzten Wochen ein großes Aufatmen gegeben, als da jemand sozusagen den Deckel weggezogen hat nach 30 Jahren Mubarak und die Leute auf die Straße gegangen sind. „Das ist jetzt unser Land“, das ist das Gefühl, das die Leute jetzt haben. Ob das Ende tatsächlich so sein wird, wie sie es sich vorstellen, oder ob hier nur der Kopf an der Spitze des Staates ausgetauscht wird, oder ob sich das ganze System ändern wird – das sind die Kämpfe, die uns in Ägypten bevorstehen. Es ist ein bisschen so ähnlich wie jetzt in Tunesien: Diktator Ben Ali ist abgereist und trotzdem gibt es dort immer noch einen Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen denen, die versuchen, möglichst viel vom alten ins neue System hinüberzuretten, und den Leuten auf der Straße, die einen vollkommenen Bruch haben wollen. Ich glaube, etwas Ähnliches werden wir jetzt auch hier in Ägypten in den nächsten Tagen oder Wochen erleben.
ORF: Weiß man denn, was mit Hosni Mubarak jetzt weiter passiert, nachdem er die Macht, wie es heißt, abgegeben hat? Wir haben gehört, er hat heute Kairo verlassen, ist angeblich Richtung Scharm El-Scheich in seine Ferienvilla gefahren. Es war in den letzten Tagen auch immer wieder die Rede davon, dass er ins Ausland gehen könnte – ist da in der Zwischenzeit irgendetwas bekannt geworden?
Karim El-Gawhary: Nein, das ist nicht klar. Er hat noch zwei Optionen: Entweder er bleibt in Scharm El-Scheich im inneren Exil und das ägyptische Militär gibt ihm einen Abgang in Würde – das ist natürlich immer schwieriger geworden in den letzten Tagen, auch gestern mit dieser Rede, die Leute sind immer wütender auf ihn geworden. Diesen Abgang in Würde hat er in den letzten Tagen für sich selber sehr schwierig gemacht, aber das ist sicherlich dennoch eine Option, dass er ins innere Exil in Ägypten geht, in Scharm El-Scheich. Die andere Option ist, dass er, ähnlich wie Diktator Ben Ali, ins Ausland fliegt, aber im Moment zumindest sieht es so aus, als würde er in Ägypten bleiben. Aber das wird sich sicher auch in den nächsten Stunden aufklären.
ORF, Sondersendung, 11.2.2011, 17:15, 3. Schaltung
ORF: Betrachten es viele der Menschen, die in Kairo unterwegs sind, so: Es ist der schönste Tag in ihrem Leben?
Karim El-Gawhary: Ja, es ist auch der schönste Tag in meinem Leben, der ich seit 30 Jahren keinen anderen Präsidenten als Mubarak kenne – das ist jetzt wirklich die Stimmung, darauf haben die Leute zwei Wochen lang hingearbeitet, sie haben Opfer gebracht, es gab viele Tote, es gab Chaos, es gab diese Geschichte mit den Schlägereien auf den Straßen, es gab die Plünderungen, die Leute haben sich nicht einschüchtern lassen, sind immer wieder auf die Straße gegangen und jeden Tag waren es mehr Leute auf den Straßen – jetzt kommt der Lohn dieser ganzen Arbeit. Und das Interessante ist jetzt nicht nur, was in Ägypten heute los ist: Das hier wird für viele andere arabische Länder Modellcharakter haben – schon am Samstag sind in Algerien große Demonstrationen angesagt, Solidarität für Ägypten und der Zorn des algerischen Volks, das heißt, das hier ist nicht das Ende des arabischen Drehbuches, sondern es wird auf jeden Fall in den anderen arabischen Ländern weitergehen. Das, was hier in Ägypten passiert ist, das hat Modellcharakter, das ist noch viel wichtiger, als was in Tunesien passiert ist, es wird wirklich eine Art Erdbeben, ein Tsunami durch die arabische Welt gehen mit dem, was heute Abend hier in Kairo passiert.
ORF:
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