Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
hergekommen?“ „Nein, ich habe die Brücke nicht überquert.
Aber es ist sicher.“ Elena glaubte ihm. Bleich und schweigend ging er neben ihr. Er berührte sie nur einmal, um ihr sein Jackett über die nackten Schultern zu legen. Mit merkwürdiger Klarheit wußte sie, daß er jeden töten würde, der versuchte, ihr etwas anzutun. Die Wickery-Brücke lag weiß im Mondlicht da.
Unter ihr rauschte das eiskalte Wasser über die uralten Steine.
Die ganze Welt war ruhig, wunderschön und kalt, als sie durch die Eichen zu der kleinen Landstraße gingen. Sie kamen an eingezäuntem Weideland und dunklen Feldern vorbei, bis sie eine lange, gewundene Auffahrt erreichten. Die Pension war ein geräumiges Gebäude aus roten Ziegelsteinen, die aus der Tonerde der Gegend gebrannt worden waren. Rechts und links davon befanden sich uralte Zedern und Ahornbäume. Außer einem Fenster waren alle dunkel. Stefan schloß eine der Doppeltüren auf, und sie traten in einen kleinen Flur, der direkt zu einer Treppe führte. Das Geländer war wie die Türen aus Eichenholz und so poliert, daß es zu leuchten schien. Sie gingen die Treppe hoch in den zweiten Stock, der nur spärlich beleuchtet war. Zu Elenas Überraschung führte Stefan sie in eins der Schlafzimmer und öffnete eine Tür, die zu einem Schrank zu gehören schien. Dahinter jedoch befand sich eine sehr steile, sehr enge Treppe. Was für ein merkwürdiger Ort, dachte sie. Diese geheime Treppe, mitten im Haus verborgen, wo kein Geräusch von außen mehr hineindrang. Sie stieg hinauf und kam in ein großes Zimmer, das den gesamten dritten Stock des Hauses bildete. Das Licht hier war fast so schlecht wie unten, doch Elena konnte den befleckten Holzfußboden und die bloßliegenden Balken der schrägen Decke erkennen. An allen Seiten gab es hohe Fenster.
Zwischen den wenigen schweren Möbelstücken standen viele große Koffer herum. Sie merkte, daß er sie beobachtete. „Gibt's hier ein Badezimmer, wo ich...?“ Er deutete auf eine Tür. Sie nahm das Jackett ab, reichte es ihm, ohne ihn anzusehen, und ging hinein.
8. KAPITEL
Elena war leicht betäubt in das Badezimmer gegangen und hatte einen stillen Dank gemurmelt. Doch als sie wieder rauskam, war sie wütend. Sie war nicht ganz sicher, wie diese Verwandlung stattgefunden hatte. Aber während sie die Kratzer auf Gesicht und Armen wusch und sauer darüber war, daß es hier keinen Spiegel gab und sie ihre Handtasche bei Tyler im Auto gelassen hatte, kehrten ihre Gefühle zurück. Und was sie fühlte, war Wut.
Zur Hölle mit Stefan Salvatore. So kalt und beherrscht, selbst als er ihr das Leben gerettet hatte. Zur Hölle mit seiner Höflichkeit, seiner Ritterlichkeit und den Mauern um ihn herum, die höher und dicker denn je zu sein schienen. Sie zog die übriggebliebenen Nadeln aus ihrem Haar und benutzte sie, um ihr Kleid vorne zusammenzustecken. Dann fuhr sie schnell mit einem verzierten Elfenbeinkamm, den sie beim Becken gefunden hatte, durch ihr offenes Haar. Mit zusammengekniffenen Augen und trotzig vorgerecktem Kinn trat sie aus dem Bad.
Er hatte sein Jackett nicht wieder angezogen. Wartend stand er mit gebeugtem Kopf in seinem weißen Cashmere-Pulli am Fenster und wirkte angespannt. Ohne den Kopf zu heben, deutete er auf ein großes Stück schwarzen Samt, das über einer Stuhllehne hing. „Vielleicht möchtest du das gern über dein Kleid anziehen.“
Es war ein bodenlanger Mantel mit Kapuze, der himmlisch weich war. Elena zog den schweren Stoff über ihre Schultern.
Aber dieses Angebot stimmte sie nicht milder. Ihr war aufgefallen, daß Stefan weder näher herangekommen war noch sie angesehen hatte, während er sprach. Absichtlich forderte sie ihn heraus. Sie kuschelte sich enger in den Mantel und genoß, wie die schweren Falten ihren Körper umhüllten und hinter ihr über den Boden schleiften. Langsam ging sie zu Stefan, stellte sich dicht neben ihn und musterte die schwere Mahagonitruhe beim Fenster.
Darauf lagen ein gefährlich aussehender Dolch mit Elfenbeingriff und ein wunderschöner Achatbecher, der in Silber gefaßt war. Außerdem sah sie eine goldene Kugel mit einer Art Zifferblatt und einige Münzen. Elena nahm eine der Münzen in die Hand. Zum Teil, weil sie sich dafür interessierte, aber auch, weil sie wußte, daß es ihn ärgern würde, wenn sie seine Sachen anfaßte. „Was ist das?“
Es dauerte einen Moment, bevor er antwortete. „Ein Goldflorin.
Ein Geldstück aus Florenz.“ „Und das?“
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