Tagebuch Eines Vampirs 01. Im Zwielicht
aus, daß Elena sich jetzt vor ihm mehr fürchtete als vorhin vor Tyler. „Schon als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, war mir klar, daß du nie Manieren lernen würdest“, sagte Stefan. Seine Stimme war kalt und leise.
Irgendwie machte ihr Klang Elena schwindlig. Sie konnte den Blick nicht abwenden, als Stefan sich Tyler näherte, der benommen den Kopf schüttelte und Anstalten machte, aufzustehen. Stefan bewegte sich leichtfüßig wie ein Tänzer. Er hatte jeden Muskel unter Kontrolle. „Aber ich hatte keine Ahnung, daß du so charakterlos bist.“ Tyler war größer und kräftiger als Stefan. Er ballte die Faust, doch bevor er etwas tun konnte, traf Stefans Hand ihn wie nebenbei auf die Wange.
Tyler flog gegen einen anderen Grabstein. Er rappelte sich hoch und blieb keuchend stehen. Blut tropfte aus seiner Nase.
Dann griff er wie ein wilder Stier an. „Ein Gentleman drängt sich niemandem auf“, fuhr Stefan fort und schlug zu. Wieder ging Tyler zu Boden und landete mit dem Gesicht nach unten in Unkraut und Dornen. Diesmal stand er langsamer auf. Blut floß jetzt aus beiden Nasenlöchern und aus dem Mund. Er schnaubte wie ein verängstigtes Pferd, als er sich erneut auf Stefan stürzte. Stefan packte Tyler an den Jackenaufschlägen.
Er schüttelte ihn zweimal hart, während die großen Fäuste seines Gegners um ihn herumwirbelten, unfähig, auch nur einen Treffer zu landen. Dann ließ er Tyler fallen. „Und er beleidigt keine Frau“, setzte er seine Rede fort. Tylers Gesicht war schmerzverzogen, seine Augen rollten, doch er griff nach Stefans Bein. Stefan riß ihn auf die Füße und schüttelte ihn wieder. Tyler wurde schlaff wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Er verdrehte die Augen. Stefan redete weiter. Er hielt den schweren Körper aufrecht und unterstrich jedes seiner Worte mit einem heftigen Schütteln.
„Und vor allem tut er ihr nicht weh...“ „Stefan!“ schrie Elena.
Tylers Kopf wurde bei jedem Mal vor- und zurückgeschleudert.
Sie hatte Angst vor dem, was sie sah, Angst vor dem, was Stefan noch tun könnte. Aber am meisten fürchtete sie sich vor Stefans Stimme, dieser kalten Stimme, die einem tanzenden Degen glich, schön, tödlich und absolut unbarmherzig.
„Stefan, hör auf!“ Er wandte ihr ruckartig den Kopf zu, überrascht, als hätte er ihre Anwesenheit vergessen. Einen Moment lang sah er sie an, ohne sie zu erkennen. Seine Augen waren im Mondlicht ganz schwarz. Er erinnerte sie an ein Raubtier, einen großen Vogel oder einen geschmeidigen Panther, der keine menschliche Regung kennt. Dann schien ihm plötzlich etwas einzufallen, und sein Blick erhellte sich ein wenig. Er blickte auf Tylers schwach herabhängenden Kopf und setzte den Jungen sanft gegen den roten Marmorgrabstein. Tylers Knie gaben nach, und er glitt zur Seite. Elena sah jedoch erleichtert, daß sich seine Augen öffneten. Zumindest das linke, das rechte schwoll zu einem Schlitz an.
„Er kommt wieder in Ordnung“, erklärte Stefan ausdruckslos.
Als ihre Furcht nachließ, fühlte sich Elena wie ausgelaugt. Das ist der Schock. Wahrscheinlich fange ich gleich an, wie hysterisch zu schreien, dachte sie.
„Kann dich jemand nach Hause bringen?“ Stefans Stimme war immer noch völlig leer. Elena dachte an Vickie und Dick, die gerade neben Thomas Fells Statue weiß der Himmel was trieben. „Nein“, sagte sie. Ihr Verstand begann wieder zu arbeiten, und sie nahm die Dinge um sie herum wahr. Ihr violettes Kleid war vorne ganz aufgerissen. Es war ruiniert. Wie mechanisch zog sie es über ihrer Unterwäsche zusammen. „Ich fahre dich.“ Obwohl sie noch halb betäubt war, spürte Elena doch einen kurzen Moment Angst. Sie sah ihn an, seine Gestalt wirkte selbst zwischen den Grabsteinen merkwürdig elegant, sein Gesicht leuchtete weiß im Mondlicht. Er war ihr noch nie so... attraktiv vorgekommen, aber seine Schönheit hatte etwas fast Fremdes, direkt Unmenschliches, denn kein Mensch konnte eine derartige Kraft ausstrahlen oder eine solche Unnahbarkeit. „Danke. Das wäre nett“, antwortete sie langsam.
Was blieb ihr sonst übrig? Sie ließen Tyler zurück, der sich vor Schmerzen stöhnend am Grabstein seines Großvaters hochrappelte. Elena überlief ein weiterer Schauder, als sie den Pfad erreichten und Stefan sich zur Wickery-Brücke wandte.
„Ich habe das Auto bei meiner Pension stehenlassen“, erklärte er. „Das hier ist der schnellste Weg zurück.“ „Bist du auch so
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