Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
weich geworden war. Auch dieses Buch stammte aus Mrs Flowers’
Bibliothek, aber sie hatte es ihr nicht geliehen. Bonnie hatte es heimlich
aus dem Regal genommen, als die alte Dame ihr den Rücken zudrehte, es
in ihren Rucksack gesteckt und ihre unschuldigste Miene aufgesetzt, als
Mrs Flowers’ scharfe Augen anschließend etwas länger auf ihr verweilt
hatten.
Bonnie fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie Mrs Flowers hintergan-
gen hatte. Und das, nachdem sie sich bereit erklärt hatte, Bonnie als
Mentorin zu unterstützen. Aber ehrlich – im Gegensatz zu den anderen
hatte Bonnie gar keine andere Wahl gehabt: Niemand sonst hätte das Buch
herausschmuggeln müssen . Wenn Meredith oder Elena darum gebeten
hätten, wären ihre Gründe dafür sofort von allen akzeptiert worden. Sie
hätten nicht einmal einen Grund zu nennen brauchen , sie hätten nur
sagen müssen, dass sie dieses Buch haben wollten. Aber Bonnie wusste,
dass das bei ihr anders war: Sie hätte nur Seufzer geerntet und ein
Tätscheln auf den Kopf – die süße, dumme Bonnie – und wäre daran ge-
hindert worden, das zu tun, was sie wollte.
Bonnie reckte stur das Kinn vor und zeichnete mit dem Finger die Let-
tern auf dem Einband des Buches nach. Vom Überschreiten der Grenzen
zwischen den Lebenden und den Toten.
Ihr Herz hämmerte, als sie das Buch auf jener Seite aufschlug, die sie zu-
vor eingemerkt hatte. Aber ihre Hände waren ziemlich ruhig, als sie unter
dem Dielenbrett auch noch vier Kerzen hervorholte, zwei weiße und zwei
schwarze.
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Sie entflammte ein Streichholz, entzündete eine der schwarzen Kerzen
und hielt sie schräg, um etwas Wachs auf den Boden neben ihrem Bett zu
tropfen. Als sich dort eine kleine Wachspfütze gebildet hatte, drückte Bon-
nie die Kerze aufrecht stehend hinein.
»Feuer im Norden, beschütze mich«, murmelte sie. Sie griff nach einer
weißen Kerze.
Da klingelte ihr Handy auf dem Nachttisch. Bonnie ließ die Kerze fallen
und fluchte.
Sie beugte sich vor und nahm es in die Hand, um festzustellen, wer an-
rief. Elena. Natürlich. Elena begriff nie, wie spät es war, wenn sie mit je-
mandem reden wollte.
Bonnie fühlte sich versucht, den Anruf einfach wegzudrücken, besann
sich jedoch eines Besseren. Vielleicht war das ein Zeichen, dass sie das
Ritual doch nicht vollziehen sollte, zumindest nicht heute Nacht. Vielleicht
sollte sie zuerst weitere Nachforschungen anstellen, um sicherzugehen,
dass sie es richtig machte. Bonnie blies die schwarze Kerze aus und
drückte auf die Taste, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Hi, Elena«, sagte sie und hoffte, dass ihre Freundin ihre Verärgerung
nicht spürte, als sie das Buch vorsichtig zurück unter das Dielenbrett
schob. »Was liegt an?«
Die Asche war unerträglich schwer. Er kämpfte dagegen an, stieß gegen die
Decke aus Grau, die ihn niederdrückte. Er riss verzweifelt mit den
Fingernägeln daran, und in seiner Panik fragte er sich, ob er sich über-
haupt nach oben bewegte, oder ob er sich nicht vielleicht stattdessen im-
mer tiefer eingrub.
Eine seiner Hände schloss sich um irgendetwas – etwas Feines,
Faseriges, wie dünne Blütenblätter. Er wusste nicht, was es war, aber er
wusste, dass er es nicht loslassen durfte, obwohl es ihn in seinem Kampf
behinderte.
Es schien, als grabe er eine Ewigkeit in der dicken Asche, aber schließ-
lich brach seine andere Hand durch die bröseligen Schichten, und
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Erleichterung durchflutete ihn. Er hatte sich in die richtige Richtung be-
wegt; er würde nicht für immer begraben sein.
Er tastete blind um sich, auf der Suche nach irgendetwas, das er ben-
utzen konnte, um sich gänzlich herauszuhebeln. Asche und Schlamm glit-
ten unter seinen Fingern hinweg und er zappelte, bis er etwas fand, das
sich wie ein Stück Holz anfühlte.
Die Kanten des Holzes bohrten sich in seine Finger, während er sich
daran klammerte wie an eine Rettungsleine im stürmischen Ozean. Lang-
sam manövrierte er sich weiter nach oben und glitt dabei in dem glitschi-
gen Schlamm immer wieder aus. Mit einer letzten großen Anstrengung
hievte er sich aus der Asche und dem Schlamm, der ein hörbares Glucksen
von sich gab, als seine Schultern zum Vorschein kamen. Er richtete sich
auf, erst auf die Knie – seine Muskeln schrien vor Qual –, dann auf die
Füße. Er schauderte und zitterte, von Übelkeit geplagt, aber auch voller
Euphorie, und schlang sich die Arme um den Leib.
Aber er
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