Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
konnte nichts sehen. Er geriet in Panik, bis ihm klar wurde, dass
etwas seine Augen verschlossen hielt. Er wischte sich übers Gesicht, bis er
seine Lider von den schlammigen Ascheklumpen befreit hatte. Einen Mo-
ment später gelang es ihm endlich, die Augen zu öffnen.
Trostloses Ödland umgab ihn. Geschwärzter Schlamm, unter Asche beg-
rabene Wasserpfützen. »Etwas Grauenvolles ist hier geschehen«, sagte er
heiser, und das Geräusch erschreckte ihn. Um ihn herum war es unendlich
still.
Ihm war eiskalt, und er begriff, dass er nackt war, nur bedeckt von sch-
lammiger Asche. Er beugte sich vor, dann verfluchte er sich für seine Sch-
wäche und richtete sich mühsam wieder auf.
Er musste …
Er …
Er konnte sich nicht erinnern.
Ein Tropfen Flüssigkeit rann ihm übers Gesicht, und er fragte sich vage,
ob er weinte. Oder handelte es sich um dieselbe zähflüssige, schimmernde
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Flüssigkeit, die hier überall war und sich mit der Asche und dem Schlamm
mischte?
Wer war er? Er wusste, dass ihn vor gar nicht langer Zeit ein Name wie
eine Selbsterkenntnis durchzuckt hatte. Aber auch daran konnte er sich
jetzt nicht mehr erinnern, und diese Leere löste ein Zittern in ihm aus, das
gänzlich anders war als jenes Schaudern, das die Kälte verursachte.
Er hatte die Hand immer noch schützend um den unbekannten feinen
Gegenstand geschlossen, und jetzt hob er die Faust und starrte sie an.
Nach einem Moment öffnete er langsam die Finger.
Schwarze Fasern.
Dann lief ihm ein Tropfen der Flüssigkeit über die Hand und über die
Mitte der Fasern. Wo die Flüssigkeit die Fasern berührte, verwandelten sie
sich. Es war Haar. Seidiges, blondes und kupferfarbenes Haar. Schön.
Er schloss die Faust wieder und drückte die Haare an seine Brust,
während eine neue Entschlossenheit in ihm aufkeimte.
Er musste gehen.
Durch den Nebel drang ein klares Bild von seinem Ziel vor sein inneres
Auge. Er schlurfte durch die Asche und den Schlamm auf das burgähnliche
Torhaus mit den hohen Türmchen und den schwarzen Türen zu, von dem
er irgendwie wusste, dass dort sein Ziel sein würde.
Kapitel Elf
Elena legte auf. Sie und Bonnie hatten über alles gesprochen, was im
Gange war, angefangen bei den mysteriösen Namenserscheinungen von
Sabrina und Meredith bis hin zu Margarets bevorstehender Bal-
lettaufführung. Aber sie hatte es nicht geschafft, das zur Sprache zu bring-
en, weshalb sie überhaupt angerufen hatte.
Sie seufzte. Einen Moment später tastete sie die Unterseite ihrer Mat-
ratze ab und zog ihr in Samt gebundenes Tagebuch heraus.
Liebes Tagebuch,
heute Nachmittag habe ich vor unserem Haus mit Caleb Smallwood ge-
sprochen. Ich kenne ihn kaum, und doch fühlte ich mich innig mit ihm
verbunden. Ich liebe Bonnie und Meredith mehr als mein Leben, aber sie
haben keine Ahnung, wie es ist, wenn man seine Eltern verliert, und das
trennt uns voneinander.
Irgendwie finde ich mich in Caleb wieder. Er ist so attraktiv und wirkt
so unbeschwert. Ich bin mir sicher, dass die meisten Leute denken, sein
Leben sei perfekt. Ich weiß, wie es ist, so zu tun, als hätte man alles im
Griff, wenn man eigentlich innerlich zusammenbricht. Es kann so einsam
machen. Ich hoffe, er hat selbst eine Bonnie oder eine Meredith, einen
Freund, auf den er sich stützen kann.
Aber während wir uns unterhalten haben, ist etwas ungeheuer Selt-
sames geschehen. Eine Krähe flog direkt auf uns zu. Es war eine große
Krähe, eine der größten, die ich je gesehen habe, mit schillernd schwarzen
Federn, die in der Sonne glänzten, und einem riesigen, gebogenen Schna-
bel und Krallen. Es könnte dieselbe gewesen sein, die gestern Morgen auf
meinem Fenstersims war, aber ich bin mir nicht sicher. Wer kann schon
Krähen auseinanderhalten?
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Natürlich haben mich die beiden Krähen an Damon erinnert, der mich
als Krähe schon beobachtet hatte, bevor wir uns überhaupt
kennenlernten.
Das Seltsame daran – lächerlich eigentlich – ist dieses aufkeimende
Gefühl von Hoffnung, das ich tief in mir spüre. Was ist, denke ich immer
wieder, was ist, wenn Damon aus irgendeinem Grund doch nicht tot ist?
Und dann bricht die Hoffnung wieder zusammen, denn er ist tot, und
ich muss mich dieser Tatsache stellen. Wenn ich stark sein will, darf ich
mich nicht selbst belügen. Ich darf kein hübsches Märchen erfinden, in
dem die Regeln geändert werden und der noble Vampir nicht stirbt, nur
weil es sich um
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