Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
dir gut?«
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»Ja«, antwortete sie benommen. »Es war einfach ein langer Tag.« Sie
hatte das Gefühl, noch nie in ihrem Leben eine größere Untertreibung von
sich gegeben zu haben.
»Nun, Margaret ist schon im Bett, aber wir haben dir etwas vom
Abendessen aufgehoben«, sagte Tante Judith und ging auf den Kühls-
chrank zu. »Hühnereintopf, und es ist auch noch etwas Salat da. Du musst
ganz ausgehungert sein.«
Aber Elena war plötzlich übel. Bis jetzt hatte sie all ihre Gefühle in Bezug
auf Stefano und seinen Angriff auf Caleb unterdrückt und die Bilder ver-
drängt, damit sie sich um die Polizei und das Krankenhauspersonal küm-
mern konnte. Aber jetzt war sie müde, und ihre Hände zitterten. Sie
wusste, dass sie sich nicht mehr lange unter Kontrolle halten konnte.
»Ich will nichts, danke«, antwortete sie und machte einen Schritt
zurück. »Ich kann nicht … ich habe keinen Hunger, Tante Judith. Ich will
nur ein Bad nehmen und ins Bett.« Sie drehte sich um und eilte aus der
Küche.
»Elena! Du musst etwas essen«, hörte sie Tante Judith hinter sich be-
sorgt rufen, während sie die Treppe hinauflief.
Dann dass beruhigende Murmeln von Roberts Stimme: »Judith, lass
sie.«
Elena schlüpfte ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.
Sie und Margaret teilten sich ein Badezimmer, und sie machte sich
daran, Margarets Spielsachen aus der Wanne zu räumen – eine willkom-
mene Ablenkung, um nicht ins Nachdenken zu geraten: eine rosa Gummi-
ente, ein Piratenschiff, ein Stapel fröhlich bunter Plastikbecher, und
schließlich schaute ein einfältig lächelndes, purpurnes Seepferdchen mit
aufgemalten blauen Augen zu ihr auf.
Sobald die Wanne leer war, ließ Elena Wasser ein, so heiß, wie sie es
gerade noch vertrug, und kippte eine großzügige Menge von ihrem nach
Aprikosen duftenden Schaumbad hinein, dessen Flaschenaufschrift ver-
sprach, ihren Geist zu beruhigen und ihre Haut zu verjüngen. Beruhigen
und verjüngen. Das klang gut. Obwohl Elena gewisse Zweifel hegte, wie
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viel sie wohl vernünftigerweise von einer Flasche Schaumbad erwarten
konnte.
Als die Wanne voll und mit einer dicken Schaumschicht überzogen war,
zog Elena sich schnell aus und stieg in das dampfende Wasser. Zuerst
brannte es, aber sie ließ sich nach und nach in die Wanne gleiten und
gewöhnte sich allmählich an die Temperatur.
Und dann lag sie im Wasser und ihr Haar umfloss sie wie das einer
Meerjungfrau, und die Geräusche des Hauses wurden durch den Schaum
über ihren Ohren gedämpft. Endlich ließ sie die Gedanken, denen sie die
ganze Zeit ausgewichen war, zu.
Tränen quollen aus ihren Augen und rannen über ihre Wangen ins
Badewasser. Sie hatte geglaubt, dass jetzt, da sie wieder zu Hause waren,
alles normal laufen würde, dass die Dinge wieder gut werden würden. Als
sie und ihre Freunde die Wächter dazu gebracht hatten, sie zurück-
zuschicken und alles in Fell’s Church so einzurichten, als hätte nie etwas
Gefährliches die kleine Stadt berührt – da hatte sie gedacht, ihr Leben
würde wieder einfach werden. Mit ihrer Familie, ihren Freunden, Stefano.
Aber es funktionierte nicht. So würde es niemals sein, nicht für Elena.
Schon am allerersten Tag, als sie in den Sommersonnenschein von Fell’s
Church getreten war, hatte etwas Dunkles und Böses und Übernatürliches
begonnen, Jagd auf sie und ihre Freunde zu machen.
Und was Stefano betraf … Gott … Stefano. Was war mit ihm los?
Als sie die Augen schloss, sah sie Caleb durch die Luft fliegen und hörte
diesen schrecklichen, dumpfen Aufprall. Was, wenn Caleb sich nie mehr
ganz erholte? Was, wenn dieser nette, unschuldige Junge, dieser Junge,
dessen Eltern gestorben waren und ihn alleingelassen hatten, so wie ihre
Eltern gestorben waren und sie alleingelassen hatten – was, wenn dieser
Junge wegen Stefano für immer gebrochen sein würde?
Stefano. Seit wann hatte er sich zu dieser Art von Person entwickelt, die
so etwas tun konnte? Der Stefano, der sich schuldig fühlte wegen der
Tiere, von denen er Blut nahm, wegen der Tauben und Kaninchen und
Rehe des Waldes. Der Stefano, den sie in seiner tiefsten Seele kannte, und
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von dem sie dachte, dass er nichts vor ihr verborgen hielt – dieser Stefano
hätte ein menschliches Wesen niemals so verletzt.
Elena blieb in der Badewanne liegen, bis das Wasser kalt wurde und ihre
Tränen versiegt waren. Dann stieg sie aus der Wanne, zog den
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