Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
musste also noch sehr früh sein. Vorsichtig ging sie zum Fenster. Sie
war sich nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte, aber sie ließ sich auf
Hände und Knie nieder und untersuchte sorgfältig den Boden.
Da. Ein winziges Bröckchen Erde auf dem knarrenden Dielenbrett, her-
untergefallen von irgendeinem Schuh. Und da, auf dem Fenstersims, eine
schwarze Krähenfeder. Das war für Elena Beweis genug.
Sie stand auf und stieß einen kleinen Freudenjauchzer aus, dann
klatschte sie einmal laut in die Hände, und ein unaufhaltsames Grinsen
breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Damon lebte!
Dann holte sie tief Luft, stand still da und zwang sich zu einer ausdruck-
slosen Miene. Wenn sie dieses Geheimnis wirklich für sich behalten wollte
– und davon ging sie aus, schließlich hatte sie es versprochen –, würde sie
sich so benehmen müssen, als wäre alles wie immer. Und die Dinge waren
ja tatsächlich immer noch ziemlich übel, sagte sie sich. Jedenfalls gab es
keinen Grund, jetzt schon zu feiern.
Damons Rückkehr hatte nichts an der Tatsache geändert, dass etwas
Dunkles hinter Elena und ihren Freunden her war, und auch nicht daran,
dass Stefano irrational und gewalttätig reagiert hatte. Als sie an Stefano
dachte, stieg eine gewisse Mutlosigkeit in ihr auf. Aber gleichzeitig war da
noch immer diese Blase des Glücks in ihr. Damon lebte!
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Und noch dazu hatte er eine Ahnung, was vielleicht im Gange sein kön-
nte. Es war typisch für Damon und seine aufreizende Art, diese Idee für
sich zu behalten und sie nicht wissen zu lassen, was er dachte. Aber
trotzdem, sein Schimmer gab mehr Anlass zur Hoffnung als alles andere in
den letzten Tagen. Vielleicht gab es doch ein Licht am Ende des Tunnels.
Ein Kieselstein klirrte gegen Elenas Fenster.
Als sie hinausschaute, sah sie Stefano, der mit hochgezogenen Schultern
und in die Taschen vergrabenen Händen auf dem Rasen stand und zu ihr
aufblickte. Elena bedeutete ihm zu bleiben, wo er war, schlüpfte hastig in
ihre Jeans, ein weißes Spitzentop und Schuhe und lief dann die Treppe
hinunter. Es lag Tau auf dem Gras, und Elenas Schritte hinterließen Fuß-
abdrücke. Die Kühle der Morgendämmerung wurde bereits von grellem,
heißem Sonnenschein abgelöst: Ein weiterer schwülheißer Sommertag
stand bevor.
Als sie Stefano fast erreicht hatte, zögerte Elena. Sie wusste nicht recht,
was sie ihm sagen sollte. Seit dem Ereignis auf dem Friedhof hatte sie,
wann immer sie an Stefano dachte, unausweichlich Caleb vor Augen – wie
er durch die Luft flog und auf dem Marmordenkmal aufprallte. Und sie
hatte ständig Stefanos wilden Zorn vor Augen. Allerdings war Damon dav-
on überzeugt, dass Stefano dafür einen guten Grund gehabt hatte. Damon.
Wie konnte sie nur verhindern, dass Stefano die Wahrheit über seinen
Bruder erriet?
Der gequälte Ausdruck auf Stefanos Gesicht machte ihr klar, dass er ihre
Beklommenheit spürte. Er streckte die Hand aus. »Ich weiß, du verstehst
nicht, warum ich das gestern getan habe«, sagte er, »aber ich muss dir et-
was zeigen.«
Elena blieb stehen, doch sie ergriff seine ausgestreckte Hand nicht. Sein
Gesicht wurde noch trauriger. »Erzähl mir, wohin wir gehen«, verlangte
sie.
»Ich muss dir etwas zeigen, das ich gefunden habe«, sagte Stefano
geduldig. »Du wirst es verstehen, wenn wir dort sind. Bitte, Elena. Ich
würde dir niemals wehtun.«
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Elena sah ihn an. Sie wusste ohne jeden Zweifel, dass das stimmte; Ste-
fano würde ihr niemals wehtun. »In Ordnung«, antwortete sie schließlich.
»Aber warte einen Moment. Ich bin gleich wieder da.«
Sie ließ Stefano im frühmorgendlichen Sonnenschein auf dem Rasen
stehen und zog sich in die stille Dunkelheit des Hauses zurück. Alle ander-
en schliefen noch: Ein schneller Blick auf die Küchenuhr sagte ihr, dass es
noch nicht ganz sechs war. Auf einen Zettel kritzelte sie eine Notiz für
Tante Judith, dass sie mit Stefano frühstücken und später zurückkommen
würde. Dann griff sie nach ihrer Handtasche, hielt inne und überzeugte
sich davon, dass darin noch immer ein getrockneter Zweig Eisenkraut
steckte. Nicht dass sie glaubte, Stefano würde ihr jemals etwas antun …
Aber es konnte nie schaden, auf alles vorbereitet zu sein.
Als sie aus dem Haus kam, führte Stefano sie zu seinem am Straßenrand
geparkten Wagen, öffnete ihr die Beifahrertür und beugte sich über sie,
während sie sich anschnallte.
»Wie weit
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