Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
entfernt ist es?«, fragte Elena.
»Nicht weit«, antwortete Stefano schlicht. Während er sich hinters
Steuer setzte und losfuhr, beobachtete Elena ihn und bemerkte die Sorgen-
falten um seine Augen, die unglücklich herunterhängenden Mundwinkel,
die Anspannung in seinen Schultern – und sie wünschte, sie hätte die
Arme um ihn legen und ihn trösten können, die Hand heben und diese
Linien um seine Augen wegwischen können. Aber die Erinnerung an sein
zorniges Gesicht hielt sie zurück. Sie konnte sich einfach nicht dazu über-
winden, die Hand nach ihm auszustrecken.
Sie waren nicht weit gefahren, als Stefano in eine Sackgasse einbog, in
der elegante Häuser standen.
Elena beugte sich vor. Sie hielten vor einem imposanten weißen Haus
mit einer geräumigen, von Säulen getragenen Veranda. Sie kannte diese
Veranda. Nach dem Abschlussball der Junior Highschool hatten sie und
Matt hier auf den Stufen gesessen und den Sonnenaufgang beobachtet. Sie
hatte ihre Satinsandalen von den Füßen geschleudert, den Kopf an Matts
in einem Smoking steckende Schulter gebettet und träumerisch auf die
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Musik und die Stimmen gelauscht, die von der Party – die traditionell
nach jedem Schulball stattfand – aus dem Haus hinter ihnen gekommen
waren. Es war eine gute Nacht gewesen, in einem anderen Leben.
Sie starrte Stefano vorwurfsvoll an. »Das ist Tyler Smallwoods Haus,
Stefano. Ich weiß, was du vorhast, aber Caleb ist nicht hier. Er ist im
Krankenhaus.«
Stefano seufzte. »Ich weiß, dass er nicht hier ist, Elena. Seine Tante und
sein Onkel sind auch nicht hier.«
»Sie haben die Stadt verlassen«, erwiderte Elena automatisch. »Tante
Judith hat gestern mit ihnen telefoniert.«
»Das ist gut«, sagte Stefano grimmig. »Dann sind sie in Sicherheit.« Er
sah sich besorgt auf der Straße um. »Bist du dir sicher, dass Caleb heute
nicht aus dem Krankenhaus entlassen wird?«
»Ja«, antwortete Elena schneidend. »Er war zu schwer verletzt. Sie be-
halten ihn zur Beobachtung da.«
Elena stieg aus dem Wagen, schlug die Tür zu und marschierte auf das
Haus der Smallwoods zu, ohne sich umzuschauen, ob Stefano ihr folgte.
Er holte sie sofort ein. Im Geiste verfluchte sie seine vampirische
Geschwindigkeit und beschleunigte ihren Schritt.
»Elena«, sagte er, trat vor sie hin und zwang sie stehen zu bleiben. »Bist
du wütend, weil ich dich beschützen will?«
»Nein«, gab sie vernichtend zurück. »Ich bin wütend, weil du Caleb
Smallwood beinahe getötet hast.«
Erschöpfung und Kummer spiegelten sich auf Stefanos Zügen wider,
und Elena hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Was auch immer mit Ste-
fano los war, er brauchte sie nach wie vor. Aber sie wusste nicht, wie sie
mit seiner gewalttätigen Seite umgehen sollte. Sie hatte sich aufgrund
seiner poetischen Seele und seiner Sanftheit in Stefano verliebt. Damon
war der Gefährliche. Gefährlichkeit steht Damon viel besser als Stefano,
stellte eine Stimme in ihrem Hinterkopf trocken fest, und Elena konnte die
Wahrheit dieser Worte nicht leugnen.
»Zeig mir einfach, was du mir zeigen wolltest«, erklärte sie schließlich.
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Stefano seufzte, dann drehte er sich um und führte sie die Einfahrt des
Hauses hinauf. Sie hatte erwartet, dass er die Vordertür ansteuern würde,
aber er ging um das Haus herum und auf einen kleinen Schuppen im
Garten zu.
»Der Werkzeugschuppen?«, fragte Elena verwundert. »Haben wir einen
Rasenmähnotstand, um den wir uns vor dem Frühstück noch kümmern
müssen?«
Stefano ignorierte ihren Scherz und ging zur Tür des Schuppens. Elena
bemerkte, dass das Vorhängeschloss an der Tür aufgestemmt und ausein-
andergerissen worden war. Ein Stück davon baumelte noch nutzlos her-
unter. Stefano musste den Schuppen bereits vorher aufgebrochen haben.
Elena folgte ihm hinein. Nach dem gleißenden Morgenlicht konnte sie
zuerst nichts in der Düsternis des Schuppens erkennen. Doch allmählich
wurde ihr bewusst, dass an den Wänden lose Blätter dicht an dicht ge-
heftet waren. Stefano streckte die Hand aus und stieß die Tür weiter auf,
sodass der Sonnenschein hereinfiel.
Elena musterte die Blätter an den Wänden, dann trat sie mit einem
scharfen Aufkeuchen zurück: Das Erste, was ihr ins Auge gefallen war, war
ein Bild ihres eigenen Gesichtes. Sie riss das Stück Papier von der Wand
und betrachtete es genauer. Es war ein Ausschnitt aus der Lokalzeitung
und zeigte sie in einem
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