Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
hinter der jedoch nichts als ein leerer Raum lag.
An den Wänden zwischen den Türen hingen überall große Fotografien.
In der Nähe des Treppenhauses, wo sie mit ihrer Suche begann, sahen die
Fotos so aus, als stammten sie vom Anfang des vergangenen Jahrhun-
derts. Junge Männer in Anzügen und mit zur Seite gekämmtem Haar
lächelten steif; junge Frauen in hochgeschlossenen weißen Blusen, langen
Röcken und aufgestecktem Haar blickten stolz in die Kamera. Auf einem
Bild trugen zwei Mädchen aus unbekanntem Anlass Blumengirlanden. Es
gab Fotos von Bootsrennen und Picknicks, von Paaren, die für Bälle
gekleidet waren, und Gruppenbilder. Eines zeigte eine ausgelassen
lachende und winkende studentische Theatergruppe auf der Bühne, viel-
leicht in den 1920er- oder 1930er-Jahren; die Frauen mit modischem
Kurzhaarschnitt, die Männer mit lustigen Überziehern über den Schuhen.
Kurz darauf entdeckte Elena eine Gruppe junger Männer in Armeeunifor-
men, die sie mit ernstem, entschlossenem Blick ansahen.
Je weiter sie den Gang entlangging, desto stärker veränderten sich die
Fotos, die jetzt in Farbe statt in Schwarz-Weiß erstrahlten; die Kleidung
wurde legerer; die Haare wurden länger, dann wieder kürzer, etwas un-
ordentlicher, dann wieder braver. Obwohl die meisten Menschen auf den
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Fotos glücklich wirkten, erfüllte irgendetwas an ihrem Anblick Elena mit
Traurigkeit. Vielleicht lag es daran zu sehen, wie schnell die Zeit verstrich:
All diese Menschen waren in Elenas Alter gewesen, Studenten wie sie, mit
ihren eigenen Ängsten und Freuden und ihrem Herzschmerz, und jetzt
waren sie längst fort, alt geworden oder sogar schon tot.
Sie dachte flüchtig an eine Flasche, die sicher in ihrem Kleiderschrank
daheim verstaut war und die das Wasser der Ewigen Jugend und des Ewi-
gen Lebens enthielt, das sie von den Wächtern hatte mitgehen lassen.
War das die Antwort? Sie drängte den Gedanken beiseite. Das war noch
nicht die Antwort, und sie hatte deshalb die eindeutige Entscheidung get-
roffen, nicht weiter über diese Flasche nachzudenken und keinen
Entschluss zu fassen – zumindest nicht jetzt. Sie hatte genügend Zeit, um
auf natürliche Weise weiterzuleben, bevor sie sich mit dieser Frage
beschäftigen würde.
Das Foto, von dem James gesprochen hatte, befand sich fast ganz am
Ende des Flures. Darauf saßen ihre Mutter, ihr Vater und James unter
einem Baum auf dem College-Hof im Gras. Ihre Eltern waren in ein
angeregtes Gespräch vertieft, und James – viel schlanker als heute, das
von einem Zottelbart bedeckte Gesicht kaum wiederzuerkennen – lehnte
sich zurück und beobachtete sie mit intelligenter und heiterer Miene.
Ihre Mutter sah erstaunlich jung aus; das Gesicht sanft, die Augen groß,
das Lächeln breit und strahlend. Aber sie war trotzdem genau die Mutter,
an die Elena sich erinnerte. Bei ihrem Anblick machte Elenas Herz einen
ebenso schmerzhaften wie glücklichen Satz. Ihr Vater war schlaksiger als
der elegante Mann, den Elena gekannt hatte – und sein pastellfarbenes
gemustertes Hemd war aus heutiger Sicht eine einzige Katastrophe –,
aber auch er war eindeutig ihr Vater, und Elena musste lächeln.
Da bemerkte sie die Anstecknadel. Zuerst hielt sie sie für einen Fleck an
dem grässlichen Hemd ihres Vaters. Aber als sie sich vorbeugte, erkannte
sie die Umrisse eines kleinen dunkelblauen V. Sie betrachtete auch die
anderen beiden auf dem Foto genauer und sah, dass ihre Mutter und
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James die gleichen Abzeichen trugen, wobei das ihrer Mutter von einer
langen goldenen Locke halb verborgen wurde.
Komisch. Nachdenklich tippte sie mit dem Finger gegen das Glas über
der Fotografie und berührte zuerst das eine V und dann die anderen. Sie
würde James nach diesen Abzeichen fragen. Hatte er nicht erwähnt, dass
er und ihr Dad einer Studentenverbindung angehört hatten? Vielleicht
hatte es etwas damit zu tun. Aber bekamen auch die Freundinnen von
Verbindungsmitgliedern ein Abzeichen?
Irgendetwas nagte in ihrem Unterbewusstsein. Sie hatte eine dieser An-
stecknadeln schon irgendwo gesehen. Aber sie konnte sich nicht daran
erinnern, wo, daher verscheuchte sie den Gedanken. Wofür dieses
Abzeichen auch stehen mochte, es war etwas, das sie nicht über ihre El-
tern wusste, eine weitere Facette ihres Lebens, die es hier zu entdecken
galt.
Sie konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren.
Kapitel Zwölf
»Gutes Training«, sagte Christopher
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