Tagebuch eines Vampirs - Jagd im Morgengrauen
seinem Element. Seine Schultern entspannten sich, während er die Daumen in seine Anzugweste hängte. »D er Legende nach«, begann er, und seine Stimme nahm einen belehrenden Tonfall an, »s ind menschliche Wächter selten, aber es gibt immer zwei oder drei von ihnen auf der Welt. Im Allgemeinen werden ihre Eltern auf die gleiche Weise rekrutiert wie Ihre, und dann werden die Kinder im Teenageralter zur Ausbildung den Wächtern übergeben.«
Elena schloss für einen Moment die Augen und zuckte zusammen. Nicht auszudenken, wie es gewesen wäre, ihr menschliches Leben so jung an die Wächter zu verlieren. Andererseits– wenn es so gekommen wäre, würden ihre Mutter und ihr Vater noch leben.
»W enn die menschlichen Wächter junge Erwachsene sind, also ungefähr in Ihrem Alter, Elena«, fuhr James fort, »w erden sie dort stationiert, wo es eine hohe Konzentration von Machtlinien gibt und daher besonders viel übernatürliche Aktivitäten.«
»W ie hier«, sagte Elena. »U nd in Fell’s Church.«
James nickte. »D eshalb werden die potenziellen Eltern zumeist an machtlinienreichen Orten rekrutiert«, berichtete er. »S o können die menschlichen Wächter in der Nähe ihres Zuhauses bleiben.«
»A ber wozu dienen diese menschlichen Wächter?«, fragte Elena weiter. »W as wird von mir erwartet?« Plötzlich wurde ihr bewusst, wie fest sie die Tasse umklammert hielt. Aus Angst, dass sie jeden Moment zerbrechen könnte, stellte sie sie auf James’ Schreibtisch zurück und umfasste stattdessen die Armlehnen ihres Stuhls.
»D ie Aufgabe der menschlichen Wächter besteht darin, die Unschuldigen vor dem Übernatürlichen auf Erden zu beschützen«, sagte James. »S ie wahren das Gleichgewicht. Und es scheint, dass die Wächter unterschiedliche Kräfte entwickeln, je nachdem, was dort, wo sie leben, benötigt wird. Also wissen wir nicht, wie Ihre Kräfte genau aussehen, bis sie sich entfaltet haben.«
»D ie Unschuldigen beschützen, damit kann ich leben«, erwiderte Elena mit einem zittrigen Lächeln. Allerdings war sie sich in Bezug auf das »W ahren des Gleichgewichts« nicht ganz so sicher. Ihrer Meinung nach waren die Wächterinnen des Himmlischen Hofs so besessen von Gleichgewicht und Ordnung, dass sie die Unschuldigen völlig vergaßen. Aber vielleicht trugen ja nur die irdischen Wächter Sorge um die Unschuldigen? Doch wenn dem so war, hätte dann nicht jemand auf ihre Eltern aufgepasst?
James lächelte zurück. »D as dachte ich mir. Und«, sagte er mit der Haltung eines Mannes, der sich das Beste für den Schluss aufgespart hat, »m ein Kollege hat einen der anderen Wächter auf Erden aufgespürt.« Er nahm einen Bogen Papier aus einem Ordner auf seinem Schreibtisch und reichte ihn ihr.
Es war der ein wenig grobkörnige Ausdruck eines Farbfotos. Ein dunkelhaariger Mann, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als sie, lächelte Elena entgegen. Seine braunen Augen funkelten schmal in der Sonne und seine Zähne leuchteten weiß aus seinem gebräunten Gesicht.
»E r heißt Andrés Montez und ist ein menschlicher Wächter, der in Costa Rica lebt. Bis jetzt habe ich nicht viele persönliche Informationen über ihn bekommen, mein Kollege wird aber versuchen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Ich hoffe, dass er bereit sein wird, nach Dalcrest zu reisen, um Ihnen alles beizubringen, was er weiß.« James zögerte, dann fügte er hinzu: »A llerdings könnte ich mir vorstellen, dass er als Wächter bereits über Sie im Bilde ist.«
Elena zeichnete Andrés’ Gesicht auf dem Foto nach. Wollte sie überhaupt einen anderen Wächter kennenlernen? Immerhin, diese dunklen Augen wirkten freundlich.
»E s wäre schön, mit jemandem zu reden, der mir sagen könnte, was mich erwartet«, erwiderte sie und schaute auf. »D anke für Ihre Mühe.«
James nickte. »I ch werde Sie informieren, sobald ich weiß, ob er hierherkommen kann«, erwiderte er.
Trotz der Neuigkeit, dass es dort draußen noch jemanden gab, der wie sie war, jemanden, der sie vielleicht verstehen würde, krampfte Elenas Magen sich zusammen. Sie fühlte sich wie im freien Fall, als geriete sie in den Strudel von etwas Tiefem und Dunklem und Unbekanntem. Würde Andrés ihr sagen können, was sie am dringendsten wissen musste? Und würde sie immer noch die Elena sein, die sie jetzt war, sobald ihr Schicksal sie einholte?
Kapitel Sechs
Stefano, Elena und fünf Werwölfe beobachteten von einem Hügel aus aufmerksam das Haus, das den Vitale-Vampiren als
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