Tagebuch (German Edition)
»Bleib-tapfer-Quelle« abzuliefern. Es ist wirklich wahr, wenn die Berichte von draußen immer schlimmer werden, hilft das Radio mit seiner Wunderstimme, dass wir den Mut nicht verlieren und jedes Mal wieder sagen: »Kopf hoch! Tapfer bleiben! Es kommen auch wieder bessere Zeiten!«
Deine Anne
Sonntag, 11. Juli 1943
Liebe Kitty!
Um zum soundsovielten Mal auf das Erziehungsthema zurückzukommen, muss ich dir sagen, dass ich mir sehr viel Mühe gebe, hilfsbereit, freundlich und lieb zu sein und alles so zu machen, dass aus dem Beanstandungsregen ein Nieselregen wird. Es ist verflixt schwer, sich Menschen gegenüber, die man nicht ausstehen kann, vorbildlich zu benehmen, während man doch nichts davon so meint. Aber ich sehe wirklich, dass ich weiter komme, wenn ich ein bisschen heuchle, statt meine alte Gewohnheit beizubehalten und jedem geradeheraus meine Meinung zu sagen (obwohl nie jemand nach meiner Meinung fragt oder Wert darauf legt). Natürlich falle ich sehr oft aus der Rolle und kann mir bei Ungerechtigkeiten die Wut nicht verbeißen, sodass wieder vier Wochen lang über das frechste Mädchen der Welt hergezogen wird. Findest du nicht auch, dass ich manchmal zu bedauern bin? Es ist nur gut, dass ich nicht nörglerisch bin, sonst würde ich versauern und meine gute Laune verlieren. Meistens nehme ich die Standpauken von der humorvollen Seite, aber das kann ich besser, wenn jemand anderes sein Fell vollbekommt, als wenn ich selbst die Gelackmeierte bin.
Außerdem habe ich beschlossen (es hat langes Nachdenken gekostet), Steno erst mal sausen zu lassen. Erstens, um meinen anderen Fächern noch mehr Zeit widmen zu können, und zweitens wegen meiner Augen. Eine elende Misere: Ich bin sehr kurzsichtig geworden und müsste längst eine Brille haben. (Buh, wie eulenhaft werde ich aussehen!) Aber du weißt ja, Versteckte …
Gestern sprach das ganze Haus von nichts anderem als von Annes Augen, weil Mutter vorgeschlagen hatte, Frau Kleiman mit mir zum Augenarzt zu schicken. Bei dieser Mitteilung wurde mir einen Moment ganz schwindlig, denn das ist auch keine Kleinigkeit. Auf die Straße! Stell dir vor, auf die Straße! Zuerst bekam ich eine Todesangst, später war ich froh. Aber so einfach ging das nicht, denn nicht alle Instanzen, die über einen solchen Schritt zu beschließen haben, waren so schnell damit einverstanden. Alle Schwierigkeiten und Risiken mussten erwogen werden, obwohl sich Miep direkt mit mir auf den Weg machen wollte. Ich holte schon meinen grauen Mantel aus dem Schrank, aber der war so klein, dass er aussah, als gehörte er einer jüngeren Schwester von mir. Der Saum war aufgegangen, und zuknöpfen ließ er sich auch nicht mehr. Ich bin wirklich neugierig, was passiert. Aber ich glaube nicht, dass der Plan ausgeführt werden wird, denn inzwischen sind die Engländer auf Sizilien gelandet, und Vater ist wieder auf ein »baldiges Ende« eingestellt.
Bep gibt Margot und mir viel Büroarbeit, das finden wir beide wichtig, und ihr hilft es. Korrespondenz ablegen und Verkaufsbuch führen kann jeder, aber wir tun es besonders sorgfältig.
Miep schleppt sich ab wie ein Packesel. Fast jeden Tag treibt sie irgendwo Gemüse auf und bringt es in großen Einkaufstaschen auf dem Fahrrad mit. Sie ist es auch, die jeden Samstag fünf Bücher aus der Bibliothek bringt. Sehnsüchtig warten wir immer auf den Samstag, weil dann die Bücher kommen, wie kleine Kinder auf ein Geschenk. Normale Leute können nicht wissen, was Bücher für einen Eingeschlossenen bedeuten. Lesen, Lernen und Radio hören sind unsere einzige Ablenkung.
Deine Anne
Dienstag, 13. Juli 1943
Das beste Tischchen
Gestern Nachmittag hatte ich mit Vaters Erlaubnis Dussel gefragt, ob er bitte damit einverstanden sein wolle (doch sehr höflich), dass ich zweimal in der Woche unseren Tisch nachmittags von vier bis halb sechs benutzen dürfe. Von halb drei bis vier Uhr sitze ich jeden Tag dort, während Dussel schläft, und sonst sind das Zimmer und der Tisch verbotenes Gebiet. Drinnen, in unserem allgemeinen Zimmer, ist nachmittags viel zu viel los, da kann man nicht arbeiten. Im Übrigen sitzt Vater nachmittags auch gern am Schreibtisch und arbeitet.
Der Grund war berechtigt und die Frage nur reine Höflichkeit. Was glaubst du nun, was der hochgelehrte Herr Dussel antwortete? »Nein.« Glattweg und nur »Nein«!
Ich war empört und ließ mich nicht einfach so abweisen, fragte ihn also nach den Gründen seines Neins. Aber da habe ich Pech
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